Das Ende des Neoliberalismus in Chile

von Ulrich Brand

Illustration: Aelfleda Clackson

Anfang September stimmt Chile über eine neue Verfassung ab. Sie könnte zum Werkzeugkasten für einen grundlegenden Umbau des Landes werden.


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In Chile finden immer wieder Entwicklungen statt, die von welthistorischer Bedeutung sind. In den 1960er Jahren war das Land eine Alternative zu den revolutionären, tendenziell autoritären Optionen einer globalen Linken in bolschewistischer Tradition. Diese suchten über die Eroberung der Staatsmacht den Bruch mit dem Kapitalismus. Die politische und gesellschaftliche chilenische Linke hingegen machte sich im Bündnis mit anderen Kräften auf den steinigen demokratischen Weg zum Sozialismus. Dieses Experiment wurde am 11. September 1973 mit dem Putsch des Militärs unter Augusto Pinochet, der insbesondere von den USA unterstützt wurde, brutal abgewürgt. Das Land wurde zum Labor autoritär-neoliberaler Politik, die bis heute das Leben der Menschen bestimmt.

Im Oktober 2019 waren es Schülerinnen und Studierende, bald auch feministische, indigene, ökologische und andere Bewegungen, die mit dem estallido social, der sozialen Explosion, den jüngsten Aufbruch einleiteten. Über Wochen und zu Hunderttausenden gingen sie auf die Straßen und forderten einen radikalen Systemwandel. Seit mittlerweile drei Jahren verdichtet sich die Geschichte in dem südamerikanischen Land mit seinen knapp 20 Millionen Einwohnern nun schon.

Im Oktober 2020 stimmten 78 Prozent der Wählerinnen und Wähler für eine verfassungsgebende Versammlung, deren Zusammensetzung im Mai 2021 ebenfalls per allgemeiner Wahl bestimmt wurde. Recht überraschend waren in diesem Gremium, das im Juli 2021 seine einjährige Arbeit aufnahm, sehr viele Delegierte von sozialen Bewegungen und wenige Parteipolitikerinnen vertreten. Die Versammlung war paritätisch besetzt, auffällig jung, und 17 der 155 Sitze waren der indigenen Bevölkerung vorbehalten. Besonders wichtig: Die politische Rechte verfügte nicht über die Sperrminorität von einem Drittel.

Während der Arbeit der verfassungsgebenden Versammlung kam es zu einem anderen bedeutenden Umbruch in Chile. Der ehemalige studentische Aktivist Gabriel Boric wurde im Dezember 2021 als Vertreter des Wahlbündnisses Apruebo Dignidad (»Für die Würde«) zum Präsidenten gewählt. Erst im März trat er sein Amt an.

Seit 4. Juli liegt der Verfassungsentwurf vor, über den am 4. September abgestimmt wird – ein Text, der als weltweiter Bezugspunkt dafür taugt, wie die vielfältigen Krisen auf der Höhe der Zeit demokratisch bearbeitet werden können. Artikel 1 des Entwurfs besagt: »Chile ist ein sozialer und demokratischer Rechtsstaat. Er ist plurinational, interkulturell, regional und ökologisch.« Im selben Artikel wird formuliert, dass Chile eine »solidarische Republik« sei und deren Demokratie paritätisch. Diese Bestimmungen haben es in sich: Die Grund- und Menschenrechte spielen eine zentrale Rolle, die Rechte der Menschen werden massiv ausgeweitet. Plurinationalität bricht mit dem Selbstbild einer homogenen, nämlich kreolisch-weißen Nation, in der die Existenz der Indigenen weder anerkannt noch ihnen Rechte zugesichert werden.

Die »solidarische Republik« ist ein Gegenentwurf zur neoliberalen Verfassung von 1980; dem Staat wird eine wichtige Rolle auch in der Wirtschaft zugewiesen. Zum ersten Mal in der Weltgeschichte wird in einer nationalen Verfassung für alle politischen und öffentlichen Gremien Geschlechterparität festgelegt. Ausdrücklich wird anerkannt, dass alle Menschen ihre eigene Identität entwickeln können – das ist ein starker Anspruch im konservativen Chile. Den indigenen Völkern, etwa elf Prozent der Bevölkerung Chiles, werden weitreichende Rechte zugesprochen. Sie werden als Völker anerkannt, territoriale Autonomie spielt eine wichtige Rolle.

»Die BESONDERS WohlhaBENDEN werden von ihrem Reichtum abgeben müssen – das ist allen klar.« 

Ein ökologischer Staat? Nach der Verfassung Ecuadors von 2008 werden nun auch in Chile die Rechte der Natur konstituiert; und zudem auf die Interdependenz von Mensch und Natur verwiesen. Es geht also nicht nur um die zu schützende Umwelt, sondern auch um den Erhalt der Grundlage allen menschlichen und nichtmenschlichen Lebens. Die Gemeingüter wie Wasser und Luft sollen besonders geschützt werden, die Privatisierung von Wasser ist ausgeschlossen.

Der Verfassungsentwurf ist keine Konstituierung des Bestehenden mit kleinen Änderungen der Pinochet-Verfassung. Es handelt sich vielmehr um einen Orientierungsrahmen für einen grundlegenden Umbau der chilenischen Gesellschaft. Eine caja de herramientas, einen Werkzeugkasten, wie in Chile immer wieder gesagt wird.

Die Verfassung, wird sie angenommen, löst Probleme nicht von heute auf morgen, aber sie kann dazu beitragen, strukturelle Ungleichheiten und Machtungleichgewichte zu überwinden. Man könnte sie als reformistisch bezeichnen: Sie ist nicht mehr neoliberal, strebt umfangreiche Entprivatisierungen an und gibt den bisher Ausgeschlossenen weitgehende Rechte und Partizipationsmöglichkeiten. Die heute materiell besonders Wohlhabenden werden von ihrem Reichtum abgeben müssen – das ist allen klar. Der gesellschaftliche Reichtum soll anders erzeugt und verteilt werden.

Die globale Bedeutung des chilenischen Prozesses liegt darin, in dystopischen Zeiten mit heißen und kalten Kriegen ganz praktisch zu zeigen, dass Gesellschaft und Leben auf diesem Planeten anders, nämlich solidarisch und nicht zerstörerisch organisiert werden können. Zukunft kann gestaltet und besser werden. Dabei sollte man nicht naiv sein. Die Herausforderungen in Chile selbst sind enorm. Dazu kommen die Zwänge des Weltmarktes und die machtförmige internationale Politik. Das Land fungiert als Rohstoffversorger der Welt – Deutschland erhält den größten Teil seines Kupfers und Lithiums aus Chile – und ist jenes mit den meisten Freihandelsabkommen. Und dennoch eröffnen sich in Chile reale Möglichkeiten für eine bessere Gesellschaft, was weit über den Andenstaat hinaus Bedeutung haben könnte.

International wird dieser Prozess vor allem durch Kooperationen in Lateinamerika abgesichert werden. Der neue Präsident Gabriel Boric ist sich dessen bewusst und geht aktiv auf die Regierungen der Nachbarländer zu, spart aber gleichzeitig nicht mit Kritik an den autoritären Entwicklungen in Kuba, Nicaragua und Venezuela. Gerade im globalen Norden gälte es, diesen Prozess zu unterstützen – insbesondere gegen die vielfältigen imperialen Interessen internationaler Akteure. Mit aktiver Solidarität und mit dem dringenden Umbau der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise, die weiterhin auf die Ausbeutung der metallischen Ressourcen aus Chile und anderen Ländern angewiesen ist. Mit dem Kampf gegen Freihandelsabkommen, die gegen die Interessen der Menschen vor allem im globalen Süden gerichtet sind. Dann kann ein zweiter Slogan der Aufstände vom Oktober 2019 Realität werden, den sich der neue Präsident in seiner Antrittsrede im März dieses Jahres zu eigen machte: »In Chile wurde der Neoliberalismus geboren – und dort stirbt er.«

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