»Alles in mir verlangte nur nach den Buben«

von Helmut Neundlinger

Fotos: Christopher Glanzl

Der SM-Aktivist, Talkmaster, Schauspieler und Publizist Hermes Phettberg wird 70. Würdigung einer Über-Lebens-Performance.


2172 wörter
~9 minuten

»Ich wohne in Gumpendorf, und jedes Wesen, das mich braucht, kann mich von Herzen gern benutzen!« Dieser Satz stammt aus einem E-Mail von Hermes Phettberg an den Opern- und Theaterregisseur Jury Everhartz aus dem Jahr 2018. Der Zustand seiner Wohnung ist legendär: Phettberg wohnt dort seit Jahrzehnten in einer Mischung aus Messie-Chaos und Living Art. Dass er potenzielle Co-Akteure mittlerweile dorthin einlädt, hat auch mit seiner Lebenssituation zu tun. Seit einigen Jahren ist Phettberg krankheitsbedingt auf seine vier Wände zurückgeworfen. Mit der Öffentlichkeit kommuniziert er mithilfe der Unterstützung einiger Freunde und Hilfskräfte über seine Kolumne im Falter und Twitter-Nachrichten. Man könnte die Zeilen an Jury Everhartz als Hilferuf verstehen, als Kassiber aus der Isolation. Der Satz findet sich unter der Rubrik »Gestionsprotokoll« auf Phettbergs Homepage. Der Absender ist selbst im Zustand krankheitsbedingter Zurückgezogenheit eine öffentliche Figur. Auch das Privateste ist ihm zutiefst öffentlich, im Besonderen seine deviante Sexualität. Die »Verfügungspermanenz«, wie Phettberg eine seiner spektakulärsten Aktionen betitelt hat, bleibt weiterhin aufrecht, selbst im Zustand äußerster Bedürftigkeit: Es geht um die herrschaftsfreie Markierung des eigenen Begehrens, das rituelle Sich-Unterwerfen im sadomasochistischen Spiel als Akt des Verhandelns von Rollen. Macht und Ohnmacht wechseln die Seiten, das Spiel kann beginnen. »Ich glaube, dass ich ein Medium bin«, sagt Phettberg in einem TV-Gespräch mit Alexander Kluge und beschreibt damit seine Durchlässigkeit für die Abgründe sozialer wie sexueller Interaktion.

Das Leben des Außenseiters als performativer Akt: Hermes Phettberg steht damit in einer Traditionslinie des Wiener Kunst-Underground. Die bildenden Künstler Padhi Frieberger und Martin Kippenberger wären zu nennen, vielleicht auch die Rauf-und-Sauf-Poeten Hermann Schürrer und Joe Berger. Phettbergs Alleinstellungsmerkmal besteht möglicherweise in einer Gleichzeitigkeit von weniger und mehr; den zutiefst männlichen Entwürfen stellt er eine lockende Passivität entgegen, der aggressives Revierbeißen vollkommen fremd ist. Dennoch liegt in der Aufforderung zum »Verfügen« die vielleicht noch größere Provokation: Schlag mich, und unsere Seelen werden wieder gesund.

Stetes Schlingern

Hermes Phettberg ist die wohl eigenwilligste Kunstfigur zwischen SM-Aktivismus, Trash-Theater, Film und neuen Medien, die dieses Land hervorgebracht hat. Die Vorgeschichte unter seinem bürgerlichen Namen Josef Fenz besteht in einem jahrzehntelangen Ringen um eine beruflich wie privat gelingende Existenz. Aus bäuerlichen Verhältnissen im Weinviertel stammend, ist dem Hauptschüler ein allerhöchstens moderater Bildungsaufstieg vorgezeichnet. Frühe persönliche Krisen, akute Selbstzweifel und ein ambivalentes Verhältnis zur eigenen sexuellen Orientierung verursachen ein stetes Schlingern zwischen kurzen Phasen der Euphorie und jähen Abstürzen. Phettbergs Bildungssozialisation, die er in einem Lebenslauf penibel auflistet, liest sich wie ein Sammelsurium an Debakeln: »1966: Durchgefallen bei der Aufnahmeprüfung für die Handelsakademie Horn; 1958 bis 1969: ständig Schlechtester in Basteln und Turnen; 1970/71: Vergeblicher Versuch zu maturieren im Rahmen der Abendhandelsakademie der Wiener Kaufmannschaft; 1973: Nicht aufgenommen in die Pastoralassistentenschule der Erzdiözese Wien«. Zwischen diesen Nichtstationen erprobt er erste Schritte als Publizist in teils selbst herausgegebenen Heften, teils in den Medien der katholischen Kolping-Bewegung. In dieser Rolle fasst er noch am ehesten Fuß, indem er den grellen Zeitgeistkritiker gibt. Der »heutigen Jugend« liest der damals noch nicht 20-jährige Neo-Publizist mit deftigen Worten die Leviten: »Das sind langhaarige, ungewaschen aussehende Burschen und Mädchen mit mangelhafter Bekleidung, schlampig wirkend und sich ordinär gebend.«

Die altkluge Abkanzelung seiner Altersgenossen verdeckt indes die inneren Kämpfe, die der junge Josef Fenz bezüglich seiner sexuellen Orientierung ausficht. Im Lebenslauf angeführt ist die auch in seiner Falter-Kolumne mit mythischem Charakter wiederkehrende »1. nennenswerte sexuelle Interaktion mit dem Ortsrauchfangkehrer«, der den damals 14-Jährigen zur gemeinsamen Masturbation am Dachboden des Elternhauses verführt. Entscheidender Nachsatz: »Früher Frust: Der aber lehnte es ab, flagellantischen Ansinnen nachzukommen.« In welcher Form der noch völlig unbedarfte Teenager dieses Begehren dem erwachsenen Rauchfangkehrer gegenüber artikuliert, sei dahingestellt. Im Kontext des Lebenslaufes erfüllt dieser Eintrag die Funktion einer frühen Markierung sexueller Devianz. In der Falter-Kolumne »Predigtdienst« interpretiert Phettberg die Urszene seines sadomasochistischen Begehrens als Initiation in die Welt der Erwachsenen: »Bei mir war es mein Ortsrauchfangkehrer, bei dem für mich das Wort Fleisch geworden ist. Solange ich Kind war, stand mir die Erwachsenenwelt als Herrschaft gegenüber. Ich war klein und sie waren groß. Er aber war der Erste, der mir sein Stückchen Fleisch darreichte und sich zu mir herunterbeugte. Als Autorität hatte er jedenfalls damit ausgespielt.«

Weitaus zwangvoller erlebt Phettberg die Mühen der sexuellen Rollensozialisation in seinen frühen Erwachsenenjahren, als er mit heterosexuellen Erwartungsnormen konfrontiert wird. Auch diesbezüglich findet sich ein bemerkenswerter Eintrag in seinem Lebenslauf: »Silvester 1972: Party in einem privaten Haushalt in Bisamberg bei Wien mit einer Gruppe koitusentschlossener Mädchen und Frauen. Alles in mir verlangte aber nur nach den anwesenden Buben. Frühzeitig mit dem letzten Bus nach Wien zurück. Für homosexuell sich zu erachten begonnen.« Diese Einsicht bewahrt ihn nicht davor, wenig später eine heterosexuelle Partnerschaft einzugehen. Zu mächtig wirkt noch die katholische Sozialisation, der er nach einigen abgebrochenen Ausbildungsversuchen auch beruflich folgt. Er arbeitet als Pastoralassistent in zwei Wiener Pfarrgemeinden und scheint dort seine Bestimmung gefunden zu haben. Der Widerstreit zwischen innerem Begehrensdrang und äußeren Erwartungen gipfelt in einem Doppelleben par excellence: Als er aufgrund einer anonymen Denunziation bezüglich seiner homosexuellen Aktivitäten seinen Dienst als Pastoralassistent quittieren muss, verschafft ihm sein erneuter Parteieintritt in die ÖVP (aus der er vier Jahre zuvor ausgetreten war) im Jahr 1982 einen Job als Kanzlist in der niederösterreichischen Landesregierung, deren Verwaltung damals noch in der Wiener Herrengasse angesiedelt war. Seine Nächte verbringt er nicht selten an den klandestinen Treffpunkten der schwulen SM-Szene, öffentlichen WC-Anlagen wie etwa jener am Schwendermarkt.

Einen entscheidenden Schub in Sachen Selbstbestimmung verpasst ihm die Co-Gründung der »Libertinen Sadomasochismus-Initiative« im Wiener WUK gemeinsam mit dem Aktivisten Hans Mariacher (heute: Heike Keusch) im Jahr 1986. Der schwarz-katholische Publizist wandelt sich zu einem kämpferischen Schreiber für SM-Szene-Schriften wie Unter Druck. Allmählich entwickelt sich jener Phettberg-Stil, der auch später seine Kolumnen-Texte prägen wird. Eine Art Vorform seriellen Publizierens etabliert Phettberg unter der Rubrik »Kontakte« in der Stadtzeitung Falter: Von 1988 bis 1990 schreibt er wöchentlich Nachrichten an einen Buchverkäufer in Bluejeans. »Fast besinnungslos nahm ich wahr, wie sich die Jeans der Kerbe seines Arsches entlang einfurchten«, beschreibt er seine stillen Ekstasen im Betrachten des Unerreichbaren.

Die fragile Maske der bürgerlichen Existenz unter dem Namen Josef Fenz zerreißt 1989 endgültig, als er von seinem Job als Kanzlist wegen »seelischer Invalidität« (Eigendefinition) in die Frühpension gedrängt wird. Die Krise setzt in weiterer Folge Kräfte frei, die Phettberg zu einer schillernden Randfigur der Wiener Underground-Kunstszene werden lassen. Im WUK lässt er sich 1990 im Rahmen des »ErotiKreativ«-Festivals unter dem Titel »Verfügungspermanenz« 14 Tage lang anketten. In den Inszenierungen der Spaßkultur-Theatertruppe »Sparverein Die Unzertrennlichen« reüssiert er als markanter Protagonist in trashigen Inszenierungen des Regisseurs Kurt Palm. Aus einem Talkshow-Experiment unter dem Titel Das Phettberg-Tribunal entwickelt sich schließlich jenes Format, das ihm auch mediale Aufmerksamkeit einbringt: Phettbergs Nette Leit Show, zunächst als theatralischer Live-Act im Globus-Haus am Höchstädtplatz eingerichtet. Im Lo-Fi-Ambiente empfängt Phettberg prominente Gäste aus Kunst, Gesellschaft und Politik. Der unerwartete Erfolg des Formats, das später ins ORF-Fernsehen übernommen wird, besteht in der subtilen Inversion des Prominenzfaktors: Die eingeladenen Größen dienen als Sparringpartner für die Schlagfertigkeit des Talkmasters, der zum eigentlichen Star mutiert. Am liebsten spricht er über sich selbst, gibt offenherzige Bekenntnisse bezüglich seiner Zwangsneurosen und Alltagsuntüchtigkeit ab und zwingt die Gäste in eine therapieähnliche Rolle.

Auferstehung als Gescheiterter

Die Kurzzeitprominenz als Talkmaster zeitigt tragische Folgen. Phettbergs persönlicher Absturz nach dem Ende des Programms fügt sich in eine lange Geschichte der »Exploitation« kreativer Peripherie durch den medialen Mainstream. Schmerzhaftester Moment des tiefen Falls ist Phettbergs Auftritt in der Harald Schmidt Show, vorgeführt von simulierter Schlagfertigkeit, aufgerieben im Pointenhagel, der nicht und nicht zündet, weil er über das tiefe Missverständnis nicht hinwegtäuschen kann, das sich zwischen diesen Extrempolen manifestiert: auf der einen Seite der von einer Heerschar an Pointenschreibern aufmunitionierte Schmidt, auf der anderen der eigenbrötlerische Talkmaster als Late-Night-Zoo-Attraktion. Im Moment der Begegnung ereignet sich: nichts, weil es das Format gar nicht vorsieht, etwas entstehen zu lassen.

Wie anders hingegen jener Begriff von Öffentlichkeit, dem sich Phettberg verpflichtet fühlt. »Dass die Dauer nicht beschnitten wird, ist wichtiger als jeder Inhalt«, schreibt Alexander Kluge in seinen Reflexionen zum »Schicksal unserer Öffentlichkeit« im Jahr 1985 und führt die ORF-Sendung Club 2 als ein rares Beispiel für ein solches Format an. Phettberg artikulierte in der Kolumne »Predigtdienst« mehrmals seinen Protest gegen die Einstellung des Club 2 im Jahr 1995, weil ihm klar war, dass dies auch das Ende einer bestimmten Kultur öffentlicher Kommunikation bedeuten würde. Devianz ja, aber bitte nur als Lifestyle-taugliches Produkt, lustig-tuntig beim Life-Ball oder mit Vollbart und Glitzerrobe beim Song-Contest. Als schwuler Aktivist hat sich Phettberg mit diesen Phänomenen selbstverständlich identifiziert und als Teil der Lösung betrachtet. Sein Weg war aber ungleich radikaler und deshalb auf Dauer inkompatibel mit den spätestens in den 1990ern immer kommerzieller agierenden Massenmedien.

Phettberg antwortet auf diese Entwicklung zweischneidig: Einerseits lässt er sich 2003 in dem Phettbergs Beichtstuhl benannten Format im Privat-TV-Sender ATV auf ein mit Werbebotschaften garniertes, mehr peinliches als originelles Pseudo-Remake seiner Nette Leit Show ein. Andererseits produziert er in einer Mischung aus Verzweiflung und Hartnäckigkeit radikale Performance-Formate wie das Hirnstromprotokoll im Kabarett Stadnikow in der Wiener Innenstadt: In einem Bett liegend, an dessen Kopfende ein Jeansboy thront, lässt er seinen Gedanken in einem Stream of Consciousness freien Lauf. 2001 liefert er eine 168-Stunden-Marathon-Performance im Internet-TV ab, die Simulation einer Gefangennahme in der »Arche Phettberg«, bewacht von halbnackten, mit gespreizten Beinen posierenden Jeansboys. Die wahren Ausmaße seiner publizistisch-literarischen Tätigkeit werden wiederum in der 2004 erschienenen 1.400-Seiten-Faksimile-Ausgabe der »Predigtdienst«-Kolumne sichtbar, die Originale zeugen von einer überbordenden schreiberischen Produktivität, die in der Stadtzeitung nur in homöopathischen Dosen übernommen werden konnte.

Wenn Phettberg sein kontinuierliches Schreiben einmal als »Tagebuch des inneren Schreckens« bezeichnet, so deutet sich darin auch die tiefer liegende Funktion des Schreibprozesses an: Versuch einer Selbsttherapie coram publico, biografische Zeugenschaft einer Existenz, die permanent mit dem Scheitern konfrontiert ist, dem Scheitern an sozialen, sexuellen, ästhetischen Normen. Aus dem Zusammenbruch des Doppellebens des Kanzlisten Josef Fenz resultiert eine radikale Form der Wiederauferstehung: nicht als plötzlich befreites, souveränes Ich, sondern als Kunstfigur, die ihr Scheitern öffentlich macht, weil es von öffentlichem Belang ist. Im »Predigtdienst« finden sich so abgründige wie berührende Schilderungen des Pendelns zwischen Depression, Fress- und Internetsucht, innerer Haltlosigkeit und äußerer Verwahrlosung. Auf dem Höhepunkt der Spaßkultur der 1990er Jahre, der Quasi-Allmacht der Ironie, formuliert Phettberg die dunkelsten Passagen, indem er seinen eigenen Tod und das anschließende Begrabenwerden imaginiert: »Im Grabe zu ruhen, entspannt. Der Leistungsdruck nimmt ab, die Erwartungshaltungen gehen zurück, Gelassenheit breitet sich aus. Kaum mehr Verpflichtungen. Formlos liegt die Leiche im Abgrund und ist ganz bei der Sache.«

Der »Predigtdienst« erscheint unter diesem Blickwinkel als poetisches Selbstzeugnis des »erschöpften Selbst«, das der Psychiater und Theoretiker Alain Ehrenberg als prototypisch für das Zeitalter neoliberaler Selbstoptimierung beschrieben hat. Der Gesamtkunstarbeiter Phettberg praktiziert in seiner Tendenz zur Selbsterschöpfung eine Form des permanenten Widerstands, die er immer wieder mit tiefen seelischen und körperlichen Krisen bezahlt. Insofern ist es auch von viel zu wenig gewürdigter Konsequenz, dass sich Hermes Phettberg nach seinen schweren Schlaganfällen ab 2006 nicht zurückgezogen hat, sondern mit vielen Projekten und Kooperationen im öffentlichen und medialen Raum präsent geblieben ist. Erinnert sei hier weniger an die eher zum Kurt-Palm-Selbstmarketing geronnene Dokumentation Hermes Phettberg, Elender (2007), sondern an Werke wie die berührende Dokumentation Der Papst ist kein Jeansboy von Sobo Swobodnik (2012), die Hermes Phettberg in seinem durch die Krankheit geprägten Alltag begleitet.

Die Sichtbarkeit des Siechtums: In gewisser Weise setzt Phettberg, der am 5. Oktober 70 Jahre alt wird, damit seinen aktionistischen Stil der lockenden Passivität auf radikale Weise fort. Er nimmt nach wie vor an der Regenbogenparade teil, und er gibt in seinen Texten Auskunft über das Leben eines hauptsächlich ans Bett gefesselten Menschen. In eben diesem Bett ist er im Übrigen zu einem Träumer ersten Ranges geworden. Wie in den »Gestionsprotokollen« nachzulesen ist, verbinden sich in diesen Träumen die verschiedenen Zeit- und Erlebnisschichten zu dichten Konstellationen, ganz im Sinn von Ludwig Binswangers Verknüpfung von »Traum und Existenz«. Im Traum manifestiert sich existenzielle Erfahrung auf ähnliche Weise wie in literarischen Texten, und es ist wohl kein Zufall, dass in vielen Träumen sich die Tagesreste mit Erinnerungen an die frühen Jahre in seinem Weinviertler Heimatort Unternalb verbinden: »Er (der Traum) tat so, wie wenn all meine nothelfenden Mitwirkenden Tag für Tag immer bei mir wären, und zwar in meinem niedergerissenen Elternhaus. Wir schrieben quasi an meinen Leiden. Aber es war heute alles anders als alle anderen Tage sonst. Alle brachten wir heute nix z’samm.«

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