An den Esstischen im Aufenthaltsraum fordert die Pandemie ihre Präsenz in Form von Klebeband-Kreuzen ein. Einige Frauen sitzen sich schräg gegenüber, eine von ihnen steht allein am Fenster aus Milchglas, eine andere am Kaffeeautomaten. Wer nicht trinkt oder isst, trägt eine FFP2-Maske. Marta K., bekleidet mit einem grauen Jogginganzug, springt auf. »Mit mir wollen Sie nicht reden?«, ruft sie auf Slowakisch. »Dann entgeht Ihnen etwas!« Die Corona-bedingte neue Normalität im Obdach Favorita an der Laxenburger Straße in Wien ist eine leichtere. Im Mai des vergangenen Jahres sind die Winter-Notquartiere wegen der Ausgangsbeschränkungen über den Sommer verlängert und auf Ganztagsbetrieb umgestellt worden. Dass wohnungslose Personen, die einen der Schlafplätze nutzen, diesen seitdem nicht mehr täglich um 8.00 Uhr räumen müssen, vermindert den Stress. Bis vor einer halben Stunde haben Mitarbeiterinnen Eintopf ausgegeben, am Abend soll es anlässlich des Weltfrauentags Pizza geben.
12.590 Menschen hat die Wiener Wohnungslosenhilfe im Jahr 2019 betreut, rund ein Drittel davon waren Frauen. Im ersten Jahr der Pandemie ist die Anzahl der Anträge leicht zurückgegangen, woraus sich vorerst lediglich ableiten lässt, dass weniger um Hilfe angefragt worden ist. Aufgrund von Miet- und Energiekostenstundungen ist ein versetzter wirtschaftlicher Corona-Effekt für viele zu erwarten – auch und insbesondere für Frauen. Die Klientinnen im Obdach Favorita haben zur Feier ihres Geschlechts am Vormittag ein Sackerl voll Kosmetika und eine einzelne Rose überreicht bekommen. Eine Vase besitzt hier niemand. Auf den folgenden Seiten erzählen sechs Frauen anhand des Inhalts ihrer Schließfächer, wie es ihnen in den vergangenen Monaten ergangen ist.
Jetzt weiterlesen? Das sind Ihre Optionen.
DIESE AUSGABE
KAUFEN
Jetzt kaufen
JETZT
ABONNIEREN
Zu den abos
Ihre Spende für kritischen Journalismus
Linker Journalismus ist unter Druck. Zumal dann, wenn er die schonungslose Auseinandersetzung mit den herrschenden Verhältnissen profitablen Anzeigengeschäften vorzieht. Mit Ihrer Spende ermöglichen Sie es uns, kritische Berichterstattung auch angesichts steigender Kosten in gewohnter Form zu liefern. Links und unabhängig.