»Mögest du in interessanten Zeiten leben« gilt als chinesischer Fluch, zumindest im globalen Westen. Robert F. Kennedy soll die Formulierung in einer Rede 1966 verwendet haben. Ob es einem gefalle oder nicht, man lebe in eben solchen Zeiten. In China, versichern mir mit Land und Sprache vertraute Freunde auf Nachfrage, ist der Spruch unbekannt. Eine Google-Recherche fördert ein tatsächlich chinesisches Sprichwort zutage, das übersetzt wird als »Besser ein Hund in Friedenszeiten als ein Mensch in Zeiten des Aufruhrs«.
Der Spruch hat etwas Wahres. Die Friedenszeiten sind vorbei, und wir sind dazu verdammt, als Menschen zu leben. Im Jemen überzieht eine von Saudi-Arabien angeführte und von westlichen Großmächten unterstützte Allianz seit 2015 Land und Menschen mit Bomben. Die UNO schätzt, dass der Krieg dort bislang an die 400.000 Leben gekostet hat. Der russische Krieg gegen die Ukraine hat wohl schon in den ersten zehn Monaten mehr als 100.000 Tote verursacht. Die indirekten Auswirkungen auf den Rest der Welt und insbesondere auf Europa sind ebenfalls dramatisch. Die explodierenden Energiekosten werden nicht nur kalte Füße in unterbeheizten Wohnungen zur Folge haben, sondern auch viele Industrie- und Dienstleistungsunternehmen in existenzielle Krisen stürzen. Die galoppierende Inflation droht Massen verarmen zu lassen. Die Zeiten, in denen wir leben, sie werden wohl noch interessanter.
Man kann die Kriegs- und Krisenlage dem Aggressor Wladimir Putin zuschreiben – und liegt damit nicht falsch. Man kann sie mit der 1989 freigesetzten geopolitischen Dynamik in Verbindung bringen, mit der ausgebliebenen Integration der NATO in eine globale Sicherheitsarchitektur und dem Siegeszug des Neoliberalismus – und wird auch dafür gute Argumente vorbringen können. Ebenso kann man, wie etwa der 2019 verstorbene Weltsystem-Theoretiker Immanuel Wallerstein es getan hat, historisch noch weiter ausholen. Übergänge von einem Welthegemon zum nächsten haben sich in den letzten Jahrhunderten nie ohne große militärische Auseinandersetzungen vollzogen. Aus dieser Perspektive ist es der Aufstieg der Volksrepublik China zu einer kapitalistischen Weltmacht, der zumindest den Hintergrund für die gegenwärtigen »Zeiten des Aufruhrs« darstellt.
»Kann es einen Aufstieg Chinas ohne großen Krieg geben?«, fragt David Mayer im ausführlichen Gespräch mit Susanne Weigelin-Schwiedrzik. Die Sinologin antwortet abwägend, aber besorgt. Ihre Einblicke ins Innere des Machtapparats der Kommunistischen Partei Chinas sind erhellend und unbedingt lesenswert – vergleichbare Tiefenschärfe sucht man in der medialen Berichterstattung zum Thema sonst vergebens. Flankiert wird das Interview von einer kritischen Bilanz der Entwicklung der Volksrepublik unter Xi Jinping, der sich Mitte Oktober eine dritte Amtszeit als Staatspräsident und KP-Generalsekretär gesichert hat, und einem Beitrag über den Uiguren-Konflikt in der chinesischen Provinz Xinjiang. Das alles umkreist auch ein politisches Dilemma für Linke hierzulande: Wie eine Kritik am chinesischen Regime formulieren, ohne in westliches Kriegstrommeln einzustimmen?
Die Weltlage liegt schwer auf dem Alltag. Hier vor Ort zu skizzieren, wie ein vernünftiger Weg nach vorn aussehen könnte, ist trotzdem, oder gerade deshalb, Gebot der Stunde. Zum Beispiel über die in Deutschland neu aufflammende Debatte um Vergesellschaftung, die Lisa Mittendrein vorstellt, oder mit gewerkschaftlichem Offensivdrang, dessen Notwendigkeit Kathrin Niedermoser betont. Was uns zu den chinesischen Sinnsprüchen zurückführt. Mao Zedong hat zu Zeiten der Kulturrevolution notiert: »Es herrscht große Unruhe auf der Welt. Die Lage ist ausgezeichnet.« Zu revolutionärem Optimismus fehlt uns heute der Anlass. Ein Hundeleben brauchen wir uns deshalb aber noch lange nicht wünschen.
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