Egoisten der Postmoderne

von Ruth Wodak

Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey legen mit »Gekränkte Freiheit« eine umfassende Studie über jene Menschen vor, die sich aus Enttäuschung über hegemoniale Politik weit nach rechts wenden.

Unlängst fuhr ich in Wien im D-Wagen. Mir gegenüber saßen zwei ältere Damen ohne Masken. Ich fragte höflich, ob sie diese vielleicht vergessen hätten, woraufhin man mich aggressiv anschnauzte und wissen ließ, dass mich das nichts anginge. Ich war überrascht, wie viel Wut meine Frage ausgelöst hatte. Und wie leicht man sich von öffentlich erlassenen Verpflichtungen und Regeln ohne weitere Begründung distanzieren kann. »Ich kümmere mich jetzt nur um mich«, folgerte schließlich eine andere Dame in derselben Straßenbahn. Höflichkeitsregeln scheinen nicht mehr zu gelten; eine gewisse Schamlosigkeit im Umgang mit anderen Menschen ist zu beobachten, denn solch expliziter Egoismus war bisher meist verpönt.

Ähnlich trug es sich vor einigen Wochen im Zug nach Bad Hofgastein zu: Ich stieg mit zwei älteren soignierten Damen aus; die eine meinte lächelnd, endlich sei nun die Pandemie vorbei, Masken und Maßnahmen seien ohnehin völlig sinnlos. Ich verteidigte das Maskentragen mit Blick auf die Wiener U-Bahn in Stoßzeiten. Dies sei ihr völlig einerlei, wähnte die Mitfahrerin, nun nicht mehr freundlich, sondern recht angriffig. Ich erzählte, dass ein guter Bekannter seit Monaten schrecklich unter Long Covid leide. Doch da hatte sie sich schon weggedreht, Fakten wollte sie nicht hören.

Im Alltag begegnen einem heutzutage also immer wieder Menschen, die – wie oben beschrieben – dem Persönlichkeitsbild entsprechen, das Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey in ihrer umfassenden Monografie Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus untersuchen. Menschen, die sich ungerecht behandelt fühlen, ihr Vertrauen in die hegemoniale Politik verloren haben und daher beschließen, sich ganz egoistisch um ihre eigenen Rechte zu kümmern. Sie seien ihrer Freiheiten beraubt, der Staat zwinge sie, bestimmte Handlungen zu setzen (beispielsweise Masken zu tragen), weswegen sie in ihrem Handlungsradius unbegründet eingeschränkt seien.

Wie die Autoren ausführlich beschreiben, sind dies Menschen, die sich häufig früher links positionierten, und sich nun nach vielen Enttäuschungen den Demonstrationen der »Querdenker« gegen die Maßnahmen gegen Corona angeschlossen haben. Es spiele dabei keine Rolle, dass diese Demonstrationen von rechtspopulistischen und -extremen Parteien, teils von Neonazis, instrumentalisiert würden. Ganz im Gegenteil: Manche der Interviewten meinten, dass die AfD ihre Anliegen besser vertrete als die Traditionsparteien, andere waren früher aufrechte Mitglieder der Zivilgesellschaft gewesen, Grün- oder SPD-Wählerinnen, die zumindest bis 2015/16 bisweilen auch Flüchtlingen und von Armut bedrohten Menschen geholfen hätten.

Freiheit statt Führer

Überraschenderweise erwies sich gerade das Maskentragen als Stein des Anstoßes – es wurde zu einem Symbol. Und solche Symbole gab es in rezenter Zeit viele, darunter das Kopftuch als Zeichen »unemanzipierter muslimischer Frauen« oder die Impfung als »Bedrohung des eigenen gesunden Körpers« – nebenbei, ein jahrhundertaltes antisemitisches Vorurteil. Ähnlich hochproblematisch ist auch das Narrativ von der Impfung als Produkt des globalen Kapitalismus in Form der Pharmaindustrie zu begreifen.

Selbstverständlich führen solche Vorurteile rasch zu einer Vielfalt von Verschwörungsnarrativen, die altbekannten Mustern folgen. Dabei wurde vergessen, dass viele Zuwanderer Flüchtlinge sind, die – in Österreich beispielsweise – bis zur Anerkennung ihres Status gar nicht arbeiten dürfen. Die Interviewten, so die Autoren, folgen aber keiner Führerpersönlichkeit; sie sehnen sich nach uneingeschränkter Freiheit, die es in einem Gesellschaftszusammenhang nicht geben kann. Aufgrund eines solchen Freiheitsdranges manifestieren die Befragten eine autori-
täre Haltung gegenüber all jenen, die sich – nolens volens –
den gesellschaftlichen Regeln eines geordneten Zusammenlebens fügten.

Das Erklärungsmodell der Autoren ist plausibel und durch die empirischen Befragungen gut abgestützt. Im Gegensatz etwa zu Zygmunt Bauman, der zuvorderst die Unerträglichkeit von Unsicherheit (»uncertainty«) als Grund für potenzielle Radikalisierung hervorhob, oder Wilhelm Heitmayer, der die Normalisierung einer Politik der Exklusion (Stichwort »rohe Bürgerlichkeit«) als Folge des Rechtsrucks konservativer Parteien beschreibt, im Unterschied aber auch zu Ivan Krastev, der die Angst vorm Untergang der eigenen Kultur als Mobilisierungsinstrument gegen die herrschende Politik betont, wenden sich Amlinger und Nachtwey Theodor W. Adorno zu, und zwar den »Studien zum autoritären Charakter«.

Anders aber als Adorno et al. geht es den Autoren zufolge heutzutage eben nicht mehr um die Suche nach einem wortgewaltigen und allmächtigen »Führer«. Ein solcher würde schließlich die uneingeschränkte Freiheit einschränken. Gleichzeitig wird die personalisierte Autorität, die Führerfigur, durch ein Abstraktum mit ähnlicher Funktion ersetzt, durch »die Freiheit«, die nun als Projektionsfläche für unerfüllte Wünsche und Bedürfnisse dient. Aufgrund von Ohnmachtsgefühlen angesichts der momentan herrschenden »polycrisis« (Adam Tooze) wenden libertär-autoritäre Menschen ihre Frustrationen und Kränkungen gegen andere, Schwächere, oder gegen die Eliten. Die eigenen Misserfolge werden so auf »Ersatzobjekte« verschoben, es werden ganz im Sinne des Rechtspopulismus Sündenböcke geschaffen. Amlinger und Nachtwey folgern: »Die Freiheitskonflikte der Gegenwart bergen also Protestformen in sich, in denen sich regressive und emanzipatorische Elemente kreuzen.«

Deutsche akademische Tradition

In sechs Kapiteln über die Geschichte des Freiheitsbegriffs, des Liberalismus, der Merton’schen Soziologie, der Freud’schen Psychoanalyse und schließlich der Frankfurter Schule eines Adorno, Horkheimer, Marcuse und Fromm leiten Amlinger und Nachtwey zu ihren empirischen Untersuchungen über. Diese 246 Seiten stellten in meinen Augen sogar ein eigenes, lesenswertes Buch dar. Sie sind reich an hervorragend ausgewählten Zitaten und integrieren zentrale interdisziplinäre Ansätze, die teilweise leider dem Vergessen anheimgefallen sind.

In bewährter deutscher akademischer Tradition scheint es den Autoren wichtig zu sein, einen riesigen theoretischen Apparat der eigenen empirischen Arbeit voranzustellen – im Gegensatz zur angloamerikanischen Tradition, wo man anhand klarer Forschungsfragen schnell zur abduktiven Integration von Theorie und Empirie schreitet. Man wartet daher beim Lesen auf den Zusammenhang zum empirischen Teil, zu den ausführlichen Interviews; in anderen Worten: Man hofft auf die Operationalisierung des differenzierten theoretischen Ansatzes durch vielfältige Datenmengen. Mehr Zitate aus den Interviews, mehr Fallstudien hätten den empirischen Teil bereichert und verdeutlicht, warum einige (nicht alle) enttäuschte Bürgerinnen und Bürger ihr Heil im rechten Lager und in althergebrachten Verschwörungsnarrativen suchen, quasi in einem regressiven, doch gesellschaftlich bedrohlichen Verzweiflungsakt.

Diese Gruppe von Menschen stellt nur einen Teil der beispielsweise in Wien im Winter 2021/2022 wöchentlich 40.000 Demonstrierenden dar. Abgesehen von Libertär-Autoritären war es damals eine bedrohliche Mischung aus Neonazis, Reichsbürgern, Identitären und Esoterikern, die die Straßen blockierten. Rechtspopulistische Parteien hatten schon rasch nach dem ersten Lockdown im März 2020 eine neue Nische für sich entdeckt, nachdem viele Regierungen strikte Maßnahmen gegen die Verbreitung der Pandemie ergriffen hatten, die dem Programm der Rechten entsprachen: Grenzen wurden geschlossen und Strafen für die Verletzung von Maßnahmen verteilt. Eine Law-and-Order-Politik griff um sich. Man hatte auf die Solidarisierung der Bürgerinnen gesetzt, die in manchen Fällen auch eintrat. Ganz traditionell im Muster des Rechtspopulismus wandte man sich mit Erfolg wieder einmal gegen »die da oben«. Viele gingen frustriert, enttäuscht und unreflektiert in diese neue Falle. Es gilt nun, in weiteren Untersuchungen diese Gemengelage genauer zu erforschen. Amlinger und Nachtwey liefern einen wichtigen Beitrag zur Klärung dieser postmodernen Bewegungen.

Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey
Gekränkte Freiheit
Aspekte des libertären Autoritarismus
Suhrkamp, 2022, 480 Seiten
EUR 29,50 (AT), EUR 28,00 (DE), CHF 36,50 (CH)
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