Joch der Identität

von Olja Alvir

439 wörter
~2 minuten
Joch der Identität
Richard Schuberth
Die Welt als guter Wille und schlechte Vorstellung
Das identitätspolitische Lesebuch
Drava, 2022, 300 Seiten
EUR 21,00 (AT), EUR 21,00 (DE), CHF 29,90 (CH)

Identitätspolitik, da verzieht’s mir direkt das Gesicht. Nicht zwingend, weil ich etwa für oder gegen sie bin. Sondern vielmehr, weil es ein Begriff ist wie viele aus den letzten Jahren: denen dank ihrer inflationären Verwendung und des ständigen Hin-und-her-Reichens zwischen links und rechts suspekte Diskursgeschichten anhängen, und das in einem Ausmaß, dass sie ihre auch schon anfänglich dürftige analytische Qualität nun komplett verloren zu haben scheinen. Zu viel rhetorisches – und, passenderweise, innerlinks-identitäres – Kleingeld wurde mit der sogenannten Identitätspolitik und der Kritik an ihr kassiert; verhärtet sind die Fronten zwischen vermeintlich revolutionär »woken« Emanzipationsbewegungen, die nicht merken, wie sie das Rad neu zu erfinden versuchen, und genauso vermeintlich emanzipierten marxistischen Linken, die nicht mal ein Update der Radmetapher dulden würden, geschweige denn des Rades selbst.

Was nun tun mit einem Buch wie Richard Schuberths Die Welt als guter Wille und schlechte Vorstellung, das sich offen als »identitätspolitisches Lesebuch« ausgibt? Meine queer-feministisch sozialisierte Seite fürchtet bei der offenen Beschwörung von Identitätspolitik sofort Spott und Häme für Marginalisierte und ihre Anstrengungen, während meine marxistischen Adern im Bewusstsein dessen pochen, wie viel es etwa an liberalen Feminismen und Antirassismen berechtigterweise zu kritisieren gibt.

Und siehe da: Schuberths Sammlung verschiedenster Arten von Arbeiten aus mehr als 20 Jahren – von Essays, Artikeln und Buchkapiteln über Radiosendungen bis hin zu Comics und Collagen – repräsentiert alles andere als bittere Betrachtungen eines »alten weißen Mannes« mit feuilletonistischer Kulturpessimitis. Es ist vielmehr eine heterogene Zusammenstellung von Fallstudien, die unterschiedliche Anknüpfungs- und Einstiegspunkte für eine kritische sowie abwechselnd genussvolle und schmerzhafte Beschäftigung mit dem Thema der Zugehörigkeit anbieten.

Schuberth unterstreicht in einem intellektuellen Hopserlauf voll leichtfüßigen Witzes, dass das Ziel jedes politisch-kämpferischen Zusammenrottens rund um Identitäten am Ende immer sein muss, den Menschen eben aus dem Joch der Identität zu befreien. Er räumt dank analytischer und diskursgeschichtlicher Ausführungen mit dem Mythos auf, dass Identität – persönliche genauso wie ethnisch-kulturelle – eine Grundvoraussetzung des modernen Menschen sei. Dass die spitzen Kritikpfeile Schuberths jede selbstzufrieden politisch engagierte Seele auf ihrem moralischen Thron zu pieksen wissen (und nicht zuletzt den Autor selbst anvisieren), ist erstaunlich versöhnlich: Keine ideologische bzw. Sprechposition kommt hier ungestraft davon, jede These, Praxis und Vorstellung kommt in den Genuss ihrer Dekonstruktion. Frei nach Schuberth sollten wir wohl alle üben, uns ein wenig fremd und suspekt zu bleiben. Dank dieses sowohl formal als auch inhaltlich außerordentlichen Buches fällt dies leichter: ein bunter Watschenbaum, von dem sich noch jede eine aufrüttelnde Einsicht herunterschütteln kann.

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