Auf dein Gedächtnis, Gazsi

von Gerold Wallner

Am 15. Jänner ist der ungarische Philosoph Tamás Gáspár Miklós verstorben.


515 wörter
~3 minuten

Tamás Gáspár Miklós stand in traditioneller ungarischer Art, die den Familiennamen vor die Taufnamen setzt, auf dem Türschild seiner Budapester Wohnung. Als G. M. Tamás wollte der 1948 Geborene zitiert werden, wenn es um Publikationen außerhalb Ungarns ging (er hat mir einmal ein wenig verärgert erklärt, dass er für sich bloß in Anspruch nehme, was auch für H. C. Artmann gegolten habe; dabei war er Zeitgenosse genug, nicht E. T. A. Hoffmann ins Treffen zu führen). Gazsi war er für die, denen er diese Ansprache zugestand.

In seinem Leben (und dem seiner Eltern, denen er sich liebevoll verbunden gefühlt hatte) spiegeln sich alle Aporien des 20. und 21. Jahrhunderts wider. Jüdischer Intellektualismus und marxistischer Kommunismus, gebunden an die Traditionen der Arbeiterbewegung und an eine bürgerliche philosophisch-künstlerische Bildung; eine profunde Ablehnung (père, mère et fils) der nationalen und nota bene nationalistischen Beeinflussungen der kommunistischen Utopien des internationalistischen Ideals durch die nationalstaatliche Entwicklung der UdSSR und ihrer Vasallen und Glacisstaaten; eine Treue zur Vorstellung einer nicht bürgerlichen Gesellschaftsordnung und der verzweifelte Versuch, die Utopie des Kommunismus von seiner sozialdemokratisch-revolutionären (trotzkistisch oder bolschewistisch) oder sozialdemokratisch-revisionistischen Form (transatlantisch und EU-imperialistisch) zu lösen und als Ziel zu bewahren und was da mehr an Widersprüchen war …

Ich durfte einige seiner luziden Überlegungen übersetzen und im Mandelbaum-Verlag herausgeben. Aber als wichtigster Beitrag in diesem Band erscheint mir die Übersetzung eines Interviews Gazsis mit der New Left Review, das genau diese biografischen Verwerfungen, die für unser Jahrhundert so furchtbar und wohl auch typisch sind, reflektiert: in seiner ruhigen, freundlichen Art, in einem Gespräch, das jedes verhärmten Ressentiments entbehrt und stattdessen Liebe und Humor zu Wort kommen lässt.

Gazsi war jenseits seiner Freundlichkeit und Zuvorkommenheit ein höchst gebildeter Mensch – als selbstdeklarierter Vertreter eines Proletariats mit marxistisch-utopischer Ausrichtung wohl gebildeter als die meisten seiner Zeitgenossinnen und Zeitgenossen. Er war dabei den jungen Vertreterinnen und Vertretern dieser Tradition in großer Zuneigung zugetan, einer Zuneigung, die ausgesprochen tief und ehrlich und hoffnungsvoll war.

Er befleißigte sich im Umgang mit den anderen Menschen einer überwältigenden Höflichkeit, die immer wieder sehr formell daherkam und unangenehm wirken konnte; gleichzeitig lauerte hinter dieser formellen Höflichkeit ein nie zu hintergehendes freundliches Interesse und interessierte Freundlichkeit.

Wo diese Höflichkeit dann doch nicht in Anschlag gebracht werden konnte, zeigte sich plötzlich ein großartiger Humor: Als ich ihn eines Tags vom Bahnhof in Bruck an der Leitha zu einem Treffen abholte, bei dem verschiedene Positionen zur Veränderung unserer gesellschaftlichen Verhältnisse diskutiert werden sollten, winkte er mir, über mehrere Gleise hinweg und gerade aus dem Waggon des Zugs aus Budapest gestiegen, zu und rief: »Wir befinden uns auf historischem Boden! Hier hat sich der brave Soldat Švejk mit den ungarischen Honvéd geprügelt!«

Nachsatz: Gazsi hat gerne Rum getrunken. Ich habe mir heute eine Flasche gekauft und werde nun, bis sie gar ist, jeden Tag ein Gläschen auf sein Gedächtnis trinken.


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