Alte Schlange Klassenscham

von Andrea Heinz

530 wörter
~3 minuten
Alte Schlange Klassenscham
Eva Müller
Scheiblettenkind
Suhrkamp, 2022, 279 Seiten
EUR 28,80 (AT), EUR 28,00 (DE), CHF 37,90 (CH)

Viel ist geforscht und geschrieben worden zu Klassismus – dabei scheint doch in einem einzigen Bild alles gesagt: eine zischelnde Schlange, die der talentierten, aber nach wie vor in Armut lebenden Künstlerin beim elitären Dinner ins Ohr säuselt: »Zzzzzzzz … Du weißt nicht, was ein Entrecôte ist? Lächerlich. Kauf dir mal ein Buch, Loser!« Oder sie könnte in die Runde fragen, vielleicht würde sie dann jemand aus Mitleid zum Essen einladen und sie müsste nicht dreimal die Woche im Supermarkt Käse klauen. »Zzzzzzzzzz … Und du klaust nicht mal den besten, weil du nicht weißt, welcher der beste ist. Scheiblettenkind!« So heißt Eva Müllers grandiose, bei Suhrkamp erschienene Graphic Novel, und der Titel erzählt schon eine eigene Geschichte: von westdeutschen Industrie-Nahrungsmitteln, Convenience und Geschmacklosigkeit. Aber eben auch von Armut und dem abwertenden Blick, der auf diese geworfen wird – gelernt nicht zuletzt durch Hartz IV und FDP-Politiker, die von »spätrömischer Dekadenz« faseln (und genau diesen Niedergang durch ihren Fossilfetischismus befeuern, doch das ist eine andere Geschichte).

Die Protagonistin der autofiktionalen Geschichte wächst irgendwo im Grenzgebiet zu Luxemburg auf, mittendrin in den poppigen, bunten 80er- und 90er-Jahren, in denen Konsum und Geiz noch so richtig geil waren. Der Vater, aus bitterarmer, kinderreicher Bauernfamilie, probt mit seiner Frau den Aufstieg durch Arbeit: tagsüber eintönige Maloche in der Fabrik, abends Feierabendbier vor dem Fernseher. Das Haus (Einfamilienhaus mit Garten muss sein!) selbst gebaut und aufgrund der ökonomischen Knappheit eine ewige Baustelle. Alle in der Straße leben so. Für die Kinder bedeutet das: keine Zeit, kein Geld, keine Perspektive. Und spätestens nach der Wende ständige Angst vor dem Gespenst Arbeitslosigkeit, vor dem Dagmar Berghoff in der Tagesschau warnt. Hello Abstiegsangst, my old friend. Weil im Hitzesommer mit 38 Grad kein Geld für das Schwimmbad da ist, entschließt die Tochter sich, am dortigen Kiosk anzuheuern – clevere Idee, aber die Klassenscham schlägt sogleich zurück: Sie stinkt permanent nach Frittierfett, wird ausgebeutet, einzig den Spott (nicht nur) von Gleichaltrigen, den gibt es umsonst dazu. Permanent wird die Protagonistin zugerichtet, auf ihren Platz verwiesen, und selbst, als sie sich mit den Punks vom Gymnasium anfreundet (sie selbst hat zwar eine Empfehlung, aber Gymnasium ist natürlich kein Gedanke), zeigt sich – bei aller Vertrautheit – schnell deren Ignoranz: Zwar sind sie gegen das Establishment, aber als Juristen- oder Zahnarztkind lässt sich das gut sein.

Gegen die Einflüsterungen der Klassenscham-Schlange (Du Bäuerin! Du Loserin!) erkämpft sich die Hauptfigur ein Studium, lebt ihre künstlerische Begabung aus. Müller erzählt das in genauen, detailverliebten, oft auch bitterbösen Bildern (etwa wenn der Neonazi im Schritt einen Pissefleck hat). Dabei verschweigt sie nicht, dass trotz des Erreichten Wunden, eine gewisse Sprachlosigkeit bleiben – nicht zuletzt im Verhältnis zu den Eltern –, ebenso wenig wie die Tatsache, dass Klassenunterschiede natürlich nicht aus dem luftleeren Raum kommen, sondern strukturell und gemacht sind. Am Ende jedes Kapitels taucht Karl Marx auf, im Co-Working-Space oder mit Junk-Food vor dem Fernseher lungernd, und steuert seine Weisheiten bei: »Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein.« Verheißt leider auch im Jahr 2023 nichts Gutes.

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