Nathalie Valeska Schüler: Normiertes Wohnen

von Christina Töpfer

»Bilder der Auseinandersetzung« 2|2023, in Zusammenarbeit mit »Camera Austria International«.

Es war ein bis dahin brachliegendes Gelände im Westen von Leipzig, auf dem die Großwohnsiedlung Grünau ab Mitte der 1970er-Jahre entstand. Ihr erster Wohnkomplex wurde im Juni 1976 errichtet, sieben weitere sollten folgen. Nach der Fertigstellung Ende der 1980er-Jahre lebten mehr als 85.000 Menschen in dem Viertel, das nach Berlin-Marzahn zur zweitgrößten Plattenbausiedlung der DDR avancierte. Für ihr fortlaufendes Projekt Aufriss begab sich Nathalie Valeska Schüler, die selbst in einer »Platte« im thüringischen Erfurt aufgewachsen ist, seit 2020 wiederholt nach Leipzig-Grünau. Sie durchstreifte die Siedlung und fotografierte die Vorder- und Seitenansichten der Gebäude, ihre gleichförmig angelegten gerasterten Fassaden, die kargen Grünflächen mit ihren Gerüsten zum Spannen von Wäscheleinen.

Wenngleich in Schülers Fotografien kaum Menschen zu sehen sind, erzählen die Bilder nicht zuletzt auch eine symbolische Geschichte der Plattenbausiedlung. Einst als sozialistische Zukunftsutopie entworfen – als eine für alle leistbare Stadt in der Stadt, deren Bewohnerinnen in gleichen Grundrissen unter gleichen Bedingungen in Kleinfamilien und Hausgemeinschaften leben –, wurde die Ost-Moderne nach 1990 nicht nur in Leipzig-Grünau zum Inbegriff der gescheiterten sozialistischen Wohnungspolitik.

Der Architekturhistoriker Wolfgang Kil beschrieb den Zwiespalt zwischen dem utopischen Versprechen des Lebens im Plattenbau und der Stigmatisierung der dort lebenden Menschen in der Nachwendezeit mit den folgenden Worten: »Dass den Bewohnern der DDR-Neubaustädte im Zuge des Systemwechsels ihre positiven Gründungsmythen heute kleingeredet und ins Gegenteil umgewendet werden, verschärft die Identitätskrise dieser Gebiete erheblich. Wie soll man sich ein Heimischwerden vorstellen, wenn selbst in den zuständigen Ämtern die neue Adresse schon als ›sozialer Brennpunkt‹ gilt?«

Fragen wie diese – zur sozialen Zugehörigkeit und Teilhabe, zum Umgang mit den stigmatisierenden Blicken »der Anderen« und der eigenen Scham, zur Verortung des Selbst innerhalb eines von Klassismus geprägten Gefüges – sind es auch, die Nathalie Valeska Schüler in Aufriss beschäftigen.

Nathalie Valeska Schüler, alle Fotografien aus der fortlaufenden Arbeit: Aufriss. C-Prints, 21,5 x 14,7 cm.
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