Die Lüge vom schlanken Staat

von Grace Blakeley

Illustration: Ūla Šveikauskaitė

Der Zusammenbruch der Silicon Valley Bank zeigt einmal mehr: Große Finanz- und Technologieunternehmen sind nur so lange gegen den Staat, bis sie seine Hilfe brauchen.


1046 wörter
~5 minuten

Wenn man einen Wirtschaftswissenschafter fragt, warum man einer armen Familie, die auf einem Berg Schulden sitzt und sich die hohen Zinsen nicht mehr leisten kann, keinen Schuldenerlass anbieten sollte, würde er mit zwei Wörtern antworten: »Moral Hazard«. Dieser Begriff, zu Deutsch: moralisches Risiko, wird in den Wirtschafts- und Finanzwissenschaften verwendet, um die Veränderungen zu beschreiben, die im Verhalten eines Wirtschaftssubjekts eintreten, wenn es von den Folgen seines Handelns abgeschirmt wird. Mein Lieblingsbeispiel stammt aus der Fernsehserie Friends, als Joey sich von einer Gang wiederholt mit einem Baseballschläger auf den Kopf schlagen lässt, nachdem er eine Krankenversicherung abgeschlossen hat. Um auf unseren Fall zurückzukommen, könnte der Wirtschaftswissenschafter argumentieren: Wenn die Familie wüsste, dass sie immer gerettet wird, wenn es schwierig wird, was würde sie dann davon abhalten, immer wieder untragbare Schulden anzuhäufen? Und warum sollte die Bank – oder gar die Steuerzahlerin – die unverhältnismäßigen Ausgaben dieser Familie finanzieren?

Amerikanische Kapitalisten haben sich schon seit Jahrzehnten gegen die Folgen ihres Handelns abgeschirmt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die großen Investmentbanken Anfang der 2000er-Jahre begannen, mit dem Geld anderer Leute unvorstellbare Risiken einzugehen. Sie wussten, dass der Staat einspringen würde, wenn es hart auf hart kommt. Die nach 2008 organisierten und finanzierten Rettungsaktionen und Fusionen schufen einige der mächtigsten Megabanken der Welt. Die Finanzmanagerinnen profitierten jahrelang von dieser Marktmacht in Form von immens hohen Gewinnen, während die Löhne in der übrigen Wirtschaft stagnierten. Die von der US-Notenbank Fed festgelegten niedrigen Zinssätze machten die Reichen noch reicher und ermöglichten das Entstehen neuer Blasen, vor allem im Tech- und Krypto-Bereich. Billige Kredite ermöglichten es unrentablen Tech-​

Unternehmen, viel länger zu überleben, als sie es hätten tun sollen. Und die verzweifelte Suche der Anleger nach Renditen in einem Niedrigzinsumfeld ließ selbst das verrückteste Krypto-Pyramidenspiel wie eine gute Investition aussehen.

Erst als die Zinssätze stiegen, begannen diese Blasen zu platzen. Ein Institut, das in den Schlamassel hineingezogen wurde, war die Silicon Valley Bank (SVB). Die SVB war eine der größten staatlich zugelassenen Banken der USA, die hauptsächlich Einlagen von den vielen wachsenden amerikanischen Technologieunternehmen entgegennahm. Sie wurde in den 1980er-Jahren gegründet und wuchs in den 1990er-Jahren und während der Technologieblasen explosionsartig. Als die Krise 2008 ausbrach, kam der SVB ein staatliches Rettungspaket zugute. Im Laufe des folgenden Jahrzehnts begann sie, ihr Geschäftsmodell zu ändern: Anstatt direkt Geld an Start-ups zu verleihen, fing sie an, Kredite an Risikokapital- und Private-Equity-Firmen zu vergeben, die sich auf Investitionen in diese Start-ups spezialisiert hatten. Als die Pandemie und die anschließende Rezession die Renditen der Anleger beeinträchtigten, geriet die Bank in Schwierigkeiten. Erschwerend kam hinzu, dass die SVB mit dem Geld, das ihr ihre Einleger geliehen hatten, einige Fehlentscheidungen getroffen hatte: Die Bank investierte beträchtliche Summen in Staatsanleihen, selbst als klar wurde, dass die Zinsen steigen würden. Das war nicht besonders klug, denn wenn die Zinssätze steigen, verlieren alte Staatsanleihen an Wert. 

All dies hätte vielleicht nicht ausgereicht, um eine Krise auszulösen, wäre nicht die Dummheit einiger der größten Einleger der Bank dazugekommen. In einer Whatsapp-Gruppe äußerten einige Kunden der Bank Bedenken hinsichtlich deren Zahlungsfähigkeit, was viele dazu veranlasste, ihr Geld abzuheben. Bei den Einlegern der SVB kam es über Nacht zu einer Art Herdenverhalten, ein Bankensturm war die Folge.

An dieser Stelle kommt wieder einmal der US-Staat ins Spiel, der in letzter Minute eingriff, um den amerikanischen Kapitalismus zu schützen. Normalerweise werden Einlagen bis zu 250.000 US-Dollar bei registrierten Banken durch die Regierung garantiert. Aber die US-Regierung hat sich bereiterklärt, alle Einlagen bei der SVB zu schützen – auch solche in Milliardenhöhe. Die US-Notenbank hat viele gute Gründe, das zu tun: Viele der Einleger der SVB sind große Technologieunternehmen oder Großinvestoren in Technologieunternehmen. Wenn die Bank zusammenbricht, könnten diese Unternehmen fallen. Die Fed muss sich auch um die Ansteckung des übrigen Finanzsektors sorgen. Es gibt bereits Anzeichen dafür, dass sich in der US-Wirtschaft – wie auch in der Weltwirtschaft – Panik breitmacht, da Anleger wegen weiterer Auswirkungen der Zinserhöhungen beunruhigt sind.

Worüber die Politikerinnen in den nächsten Wochen kein Wort verlieren werden, ist der »Moral Hazard«. Der Zusammenbruch der SVB beweist erneut, dass Libertäre nur so lange Libertäre sind, bis sie selbst Hilfe vom Staat brauchen. Viele derjenigen, die Rettungsaktionen fordern, sind Libertäre aus der Tech-Branche, die seit Jahrzehnten gegen den Staat und »Big Government« wettern. Doch das ist nur Gerede. Der Zusammenbruch der SVB ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass das Herzstück des modernen Finanzkapitalismus die enge Partnerschaft von Staat und privatem Kapital ist. Die SVB ist eine Bank, die aufgrund einer zum Teil von der Fed aufgeblähten Technologieblase schnell wuchs, bevor sie während der Finanzkrise 2008 von der Regierung gerettet wurde, um dann dank des ebenfalls von der Fed ausgelösten Technologiebooms noch stärker zu wachsen – und dann so viel Geld in US-Staatsanleihen investierte, dass ihre Einleger bei steigenden Zinsen erneut gerettet werden mussten.

Staaten und Märkte sind keine getrennten Machtsphären. Es gibt nicht den einen Bereich der bürokratischen, zentralisierten Planung und den anderen Bereich des freien Marktwettbewerbs. Vielmehr sind Staaten und Kapitalisten oft mächtige Verbündete in einem Spiel, das sie so gestaltet haben, dass nur sie gewinnen können. Der Staat ist, wie nicht nur Antonio Gramsci und Nicos Poulantzas festgestellt haben, ein »soziales Verhältnis«, ähnlich wie das Kapital selbst. Die Ergebnisse in den staatlichen Institutionen spiegeln die Machtverhältnisse in der Gesellschaft als Ganzer wider. Der Neoliberalismus hat die Rolle des Staates in der Wirtschaft nicht verringert, sondern den Staat von den Interessen der arbeitenden Bevölkerung abgeschirmt und ihn gleichzeitig für den Einfluss des Kapitals weit geöffnet. Die Behauptung, die Rechte glaube an einen »schlanken Staat«, ist ein ideologischer Deckmantel für den Angriff auf die arbeitenden Menschen in guten Zeiten. Spätestens dann, wenn das Kapital selbst bedroht ist, erweist sie sich verlässlich als Lüge.

»Die pleite der SVB ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass das Herzstück des modernen Finanzkapitalismus die enge Partnerschaft von Staat und privatem Kapital ist.«

Aus dem Englischen von Benjamin Opratko.

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