Weitverbreitetes Randthema

von Sebastian Schmidt

504 wörter
~3 minuten
Weitverbreitetes Randthema
Daniela Brodesser
Armut
Kremayr & Scheriau, 2023, 101 Seiten
EUR 20,00 (AT), EUR 20,00 (DE), CHF 29,90 (CH)

Im Jahr 2021 waren laut dem Unternehmen Statista 20,7 Prozent aller in Deutschland lebenden Menschen von Armut oder sozialer Ungleichheit betroffen. In Österreich waren es im selben Jahr 18,4 Prozent der Bevölkerung. Wir sprechen beim Thema Armut, nur um dies zu verdeutlichen, also von rund einem Fünftel der Bevölkerung. Und doch tun wir es eben nicht, denn Armut wird nicht bzw. kaum diskutiert.

Genau darum geht es Daniela Brodesser in ihrem Essay Armut. Und es geht darum, dies zu ändern: »Trügerische Hoffnung, Scham, Stigmatisierung, die eigenen Vorurteile, die uns antrainiert wurden, all das trägt dazu bei, dass Armut, obwohl weit verbreitet, nach wie vor ein Randthema ist.«

Daniela Brodessers stilistisches Mittel, könnte man sagen, ist die Wut. Es kommt ihr nicht darauf an, eine sensible oder buhlende Sprache zu finden. Die Autorin möchte nicht darum werben, sich das Thema anzueignen, sondern sie berichtet als Betroffene, als Getroffene: als Teil einer Mittelschicht, die gegen Armut kämpfen musste, in die sie und ihre Familie durch langanhaltende Krankheit schließlich doch gerieten.

Und so schreibt die Autorin in sechs Kapiteln zunächst übers Leugnen, in diese Situation geraten zu sein. Achtzehn Monate, so die Autorin, dauere es im Schnitt, bis sich Menschen eingestehen können, dass sie von Armut betroffen sind. Eine Zeit, nach der es für viele zum Handeln bereits zu spät ist. Reden wäre gut, aber »du kannst nicht mitreden, was hast du schon zu sagen, du hast ja nichts geleistet«.

Daniela Brodesser schreibt von der Not der Besitzlosigkeit, der Entbehrung, der enormen Mehranstrengung, die Armut bedeutet. Und natürlich über Klasse und Scham, diese Zentralpunkte von Armut, die erst seit kurzem etwa durch Annie Ernaux oder Didier Eribon auch literarisch verhandelt und in der Breite angehört werden. Immer wieder erzählt die Autorin vom gesellschaftlichen Fingerzeig, vom Verweis auf Eigenwirksamkeit, bis der tägliche Vorwurf der Selbstverschuldung zum fatalen Mantra gedeiht.

Brodesser fand in den sozialen Netzwerken Rückhalt. Ihr zunächst schüchterner Content gab schließlich vielen Menschen Mut zu Bekennung und Vernetzung. Mittlerweile engagiert sich Daniela Brodesser als »Frau Sonnenschein« politisch. Ihr Essay enthält viele wichtige Entwürfe, die armen Menschen sekundieren: Es geht um zu hohe Barrieren für Hilfsangebote oder den Mangel an ungeschriebenen Rechten, zum Beispiel auf Faulheit. Daniela Brodesser bietet Identifikationsangebote.

Und so sieht man darüber hinweg, dass die Autorin auch bereits Bekanntes dekliniert, wie die Korrelation von Armut und Bildungschancen oder Gesundheit. Darauf, dass es zum Beispiel schon sehr gute Podcasts zum Thema Armut gibt, verweist die Autorin nicht. Daniela Brodesser schreibt eine persönliche Großbetrachtung, macht einen Rundumschlag, wirbelt auf.

Leider mangelt es dem Buch dabei an Nuancen, wodurch man sich gerade als (ehemals) betroffene Person manchmal wenig gemeint findet. Armut als etwas Leises; die Stille, die einen umgibt, sie wird nur nebensatzartig erwähnt. Oder die Komplexität, besonders im familiären Umfeld, denn nicht immer sind alle gleich betroffen. So bleibt das Buch ein Aufschrei, ein Wutmacher – was nicht wenig ist.

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