Vor einigen Wochen erhielt das TAGEBUCH eine E-Mail von der Leserin Elisabeth Fritsch. Sie monierte den Artikel »Aufrüstung durch Erinnern« von Erich Hackl aus der März-Ausgabe 2020 über eine EU-Resolution zur Bedeutung europäischer Vergangenheit. Hackl erkannte in der Resolution Geschichtsrevisionismus und kritisierte den Bund sozialdemokratischer Freiheitskämpfer dafür, sie »in einer unbeholfenen Worthülsenprosa« sogar gutzuheißen. Frau Fritsch hingegen betonte, man müsse die Erfahrungen der Menschen in Ex-Sowjetstaaten berücksichtigen und sie »der nächsten Generation (…) verständlich machen«.
Nun soll hierzu keine Debatte entfacht, sondern das Besondere der Zuschrift erzählt werden: Wie kam es überhaupt, dass Frau Fritsch über drei Jahre nach Erscheinen auf den Artikel aufmerksam wurde? – Das TAGEBUCH war Frau Fritsch bis zum heurigen Frühjahr kein Begriff, doch dann bekam sie in der Buchhandlung Lhotzky in der Wiener Rotensterngasse eines in die Hand. Bei Lhotzky wird jedes einzelne TAGEBUCH aufgehoben und kann gekauft oder vor Ort nachgelesen werden.
Ein Mensch kommt in einen Buchladen, schmökert in alten Magazinen, verspürt daraufhin Diskussionsbedarf – 2023 ist sowas alles andere als alltäglich. Aber es verdeutlicht, wofür Printmedien einst standen – idealistisch ausgedrückt: ein ansprechendes Produkt, das Lesende gut informiert, Orientierung bietet, Meinungsbildung anregt, Öffentlichkeit herstellt.
Nun wird künstliche Intelligenz in der Medienbranche für eine Umwälzung sorgen, wie sie die wenigsten auch nur im Ansatz abschätzen können. Und dabei ist die Lage ohnehin äußerst heikel. Wirtschaftlich kämpfen klassische Medien ums Überleben. Von Schließungen und Kündigungen allerorten einmal abgesehen, die großen Häuser haben mittlerweile Pi mal Daumen kalkuliert, wie lange sie noch Tageszeitungen produzieren können. Circa 20 Jahre wird’s sich noch spielen, dann war’s das mit der druckfrischen Zeitung am Morgen. Gut, vielleicht finden die Gratisblätter Heute und Österreich Mittel und Wege, den öffentlichen Raum etwas länger zuzumüllen.
Aber die Köpfe rauchen, es braucht Ideen, wie ein Medium überleben kann. Seit klar ist, dass ChatGPT bald bessere Geschichten schreiben wird als neun von zehn Redakteuren, rauchen die Köpfe umso stärker, und es perlt von der Stirn der Angstschweiß. Das Rennen zwischen Mensch und Maschine ist ein ziemlich unfaires. Also, was tun? Ein Ansatz: etwas schaffen, dessen Halbwertszeit ein paar Stunden übersteigt und das sich nicht nur nach der Aufmerksamkeitsökonomie richtet. Etwas, das mehr ist als Skandal, Hype, Klatsch, Berieselung oder Infotainment-Snack. Zugegeben, Wochen- oder Monatszeitungen sind hier gegenüber Tageszeitungen im Vorteil.
Wenn das nicht gelingt, verlieren am Ende alle: das Publikum wie auch die Menschen hinter den Medien, deren Haare ob der Rasanz und des Drucks in der Branche ohnehin schon zu Berge stehen oder die längst im Burnout sind.
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