An diesem letzten Junitag gilt in Riga höchste Waldbrandgefahr. Der Rasen auf dem Pausenhof der Grundschule ist gelb, und zwischen den dürren Grashalmen scheint der Sand hindurch, auf dem die lettische Hauptstadt gebaut ist. Es ist erst eine Woche her, seit in Lettland Mittsommer gefeiert wurde, die kürzeste Nacht des Jahres, und noch geht die Sonne lange nicht unter, als sich die Mitglieder des russischen Folklore-Ensembles Berendejka zur letzten Probe vor dem großen Liederfest treffen.
Im Schatten einiger Bäume stellt sich das Ensemble – Alt und Jung, fast alles Frauen – im Kreis auf. Es wird gelacht und gescherzt. »Bei uns ist es immer laut«, schmunzelt Violeta Nikolajenko. Die hellen blonden Haare hat die 25-jährige Chorleiterin und Kindergärtnerin mit einer gelben Schleife zurückgebunden, der blaue Rock weht ihr um die Beine und immer wieder klingelt die Smartwatch an ihrem Handgelenk. Sie hat alles im Blick: die Lieder, die Auftritte, ja sogar die Geburtstage der einzelnen Mitglieder. Schließlich wird es ruhig und Violeta Nikolajenko gibt den Einsatz. Als die neunzehn Stimmen zu singen beginnen, vibriert die Luft, und die sich wiegenden Menschen scheinen alles zu vergessen, die Hitze, den Schulhof, die Aufregung.
Das lettische Lieder- und Tanzfest findet alle fünf Jahre statt. Über 40.000 Menschen kommen während neun Tagen zusammen, um zu singen und zu tanzen. Schon seit der ersten Durchführung 1873 ist dieser Anlass stark mit dem lettischen Nationalgefühl verbunden. Was macht ein russisches Folklore-Ensemble dort mittendrin? »Seit 2003 ist ein Konzert den Minderheiten Lettlands gewidmet«, erklärt Violeta Nikolajenko, als nach der Probe alle noch auf den niedrigen Schulbänken zusammensitzen und Kuchen essen, »seither war Berendejka jedes Mal mit dabei.«
Jetzt weiterlesen? Das sind Ihre Optionen.
DIESE AUSGABE
KAUFEN
Jetzt kaufen
JETZT
ABONNIEREN
Zu den abos
Ihre Spende für kritischen Journalismus
Linker Journalismus ist unter Druck. Zumal dann, wenn er die schonungslose Auseinandersetzung mit den herrschenden Verhältnissen profitablen Anzeigengeschäften vorzieht. Mit Ihrer Spende ermöglichen Sie es uns, kritische Berichterstattung auch angesichts steigender Kosten in gewohnter Form zu liefern. Links und unabhängig.