Das lettische
Paradox

von Janine Schneider

Fotos: Sophie Tichonenko

Ein Drittel der Bevölkerung Lettlands spricht Russisch. Seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine sitzt die Minderheit zwischen allen Stühlen. Ein Besuch in Riga und Daugavpils.


2200 wörter
~9 minuten

An diesem letzten Junitag gilt in Riga höchste Waldbrandgefahr. Der Rasen auf dem Pausenhof der Grundschule ist gelb, und zwischen den dürren Grashalmen scheint der Sand hindurch, auf dem die lettische Hauptstadt gebaut ist. Es ist erst eine Woche her, seit in Lettland Mittsommer gefeiert wurde, die kürzeste Nacht des Jahres, und noch geht die Sonne lange nicht unter, als sich die Mitglieder des russischen Folklore-Ensembles Berendejka zur letzten Probe vor dem großen Liederfest treffen.

Im Schatten einiger Bäume stellt sich das Ensem­ble – Alt und Jung, fast alles Frauen – im Kreis auf. Es wird gelacht und gescherzt. »Bei uns ist es immer laut«, schmunzelt Violeta Nikolajenko. Die hellen blonden Haare hat die 25-jährige Chorleiterin und Kindergärtnerin mit einer gelben Schleife zurückgebunden, der blaue Rock weht ihr um die Beine und immer wieder klingelt die Smartwatch an ihrem Handgelenk. Sie hat alles im Blick: die Lieder, die Auftritte, ja sogar die Geburtstage der einzelnen Mitglieder. Schließlich wird es ruhig und Violeta Nikolajenko gibt den Einsatz. Als die neunzehn Stimmen zu singen beginnen, vibriert die Luft, und die sich wiegenden Menschen scheinen alles zu vergessen, die Hitze, den Schulhof, die Aufregung.

Das lettische Lieder- und Tanzfest findet alle fünf Jahre statt. Über 40.000 Menschen kommen während neun Tagen zusammen, um zu singen und zu tanzen. Schon seit der ersten Durchführung 1873 ist dieser Anlass stark mit dem lettischen Nationalgefühl verbunden. Was macht ein russisches Folklore-Ensemble dort mittendrin? »Seit 2003 ist ein Konzert den Minderheiten Lettlands gewidmet«, erklärt Violeta Nikolajenko, als nach der Probe alle noch auf den niedrigen Schulbänken zusammensitzen und Kuchen essen, »seither war Berendejka jedes Mal mit dabei.«

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