Globale Folgen
eines Putschs

von David Mayer

Wiener Tagebuch, Nr. 1, Jänner 1974


562 wörter
~3 minuten

Der Putsch vom 11. September 1973 in Chile gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende hat in den letzten 20 Jahren als zentraler »Erinnerungsort« an Bedeutung noch gewonnen (siehe den Beitrag von Karin Fischer). Seine Folgewirkungen gingen weit über die Ereignisse in Chile selbst hinaus. Das gilt unter anderem für jene Wirtschafts- und Sozialpolitik, die man erst Jahre später als »Neoliberalismus« bezeichnen sollte.

Folgenreich war auch die damals teils heftig geführte Auseinandersetzung um Fragen transformatorischer Politik oder, klassischer formuliert, um »Reform« und »Revolution«. Allendes auf Wahlen und die demokratische Eroberung der Staatsmacht ausgerichteter Weg zum Sozialismus und sein gewaltsames Ende warfen altbekannte innerlinke Gegensätze erneut auf: autonome Bewegung, Mobilisierung von unten und »revolutionäre Praxis« oder parlamentarische Mehrheit, Vertrauen auf die Neutralität staatlicher Institutionen und Zugeständnisse an die drohende Gegenseite?

Während die radikale Linke in Lateinamerika und in Europa damals noch mehrheitlich Ersteres betonte, zog in Italien die mächtige Kommunistische Partei unter Enrico Berlinguer den gegenteiligen Schluss: Provokationen der reaktionären Gegenseite müssen vermieden, mit dem anderen Lager ein »historischer Kompromiss« eingegangen werden. Franz Marek, Chefredakteur des Wiener Tagebuch, galt zwar als wichtiger Vordenker des »Eurokommunismus«, kommentierte die Debatte in Italien jedoch durchaus kritisch.

Franz Marek

Geschichtlicher Kompromiß oder kompromittierende Geschichte?

Eine Artikelserie, die der Generalsekretär der KP Italiens, Berlinguer, im Oktober, unmittelbar nach dem Staatsstreich in Chile, in der Rinascità, der Wochenschrift der Partei, veröffentlichte, hat innerhalb und außerhalb der Partei leidenschaftliche Diskussionen ausgelöst.
Die Grundgedanken der Artikel, offenbar das Ergebnis einer Analyse der chilenischen Ereignisse: Auch 51 Prozent der Stimmen für die linken Parteien wären für eine solche aus Wahlen hervorgegangene Regierung keine Garantie des Überlebens, weil man gegen 49 Prozent einfach nicht regieren kann. Die Einheit der linken Parteien ist gewiß entscheidend, aber ungenügend, um eine vertikale Spaltung des Landes zu verhindern, die die Gefahren eines Staatsstreichs erhöhen würde. Deshalb spreche die Partei nicht von einer linken Alternative, sondern von einer demokratischen Alternative, die auf der Grundlage eines »compromesso storico«, eines geschichtlichen Kompromisses, realisiert werden müsse. Ein frontaler Zusammenstoß kann nur durch ein Bündnis der Arbeiterschaft mit den Mittelschichten verhindert werden, das eine Verständigung der großen Massenparteien voraussetze; sie sei auch notwendig, um ein Bündnis des Zentrums mit der äußersten Rechten und den Faschisten zu vereiteln. 

[...]

Die Rinascità druckte den Brief einer Parteisektion aus Florenz ab, in dem es unter anderem hieß: Die Christlich-Demokraten sind trotz zahlreicher Anhänger in der Arbeiterschaft und in den Mittelschichten eine konservative Kraft und – wie die Erfahrungen beweisen – immer wieder zu Bündnissen mit der schlimmsten Reaktion bereit. [...] Der einzige Weg seien gewerkschaftliche Massenkämpfe für Strukturreformen, die den »Interklassismus« der Christlich-Demokraten sprengen, nicht Spitzenabkommen, sondern ein historischer Block als Bündnis aller werktätigen Schichten unter der Führung des Proletariats.
In mündlichen Aussprachen wurde noch hinzugefügt: Die Formel entspreche überhaupt nicht der Situation, es gebe nicht die geringsten Anzeichen für die Möglichkeit einer solchen Verständigung.

[...]

Die Diskussionen in der KP Italien spiegeln die Tatsache wider, daß wir – im allgemeinen – in einer Zeit leben, in der die politische, moralische und ökonomische Krise der Bourgeoisie mit einer geistigen Krise der Arbeiterbewegung zusammenfällt, einer Zeit, in der in Italien trotz andauernd guter Wahlresultate der Kommunisten die Frage für sie immer akuter wird: wie soll es weitergehen?
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