Pinochet und
die Pobladores

von Karin Fischer

Illustration: Ūla Šveikauskaitė

Vor 50 Jahren leitete der Militärputsch in Chile eine 17-jährige Diktatur ein. Die Pobladores, die Menschen aus den Armenvierteln der Hauptstadt Santiago, waren zentraler Teil der Protestbewegung.


2795 wörter
~12 minuten

Der Militärputsch in Chile am 11. September 1973 machte dem Experiment eines demokratischen Weges in den Sozialismus unter Salvador Allende ein Ende. In der Hauptstadt Santiago rückten die Panzer aus. Die Luftwaffe bombardierte den Regierungssitz. Der Beschuss durch das Militär dauerte mehrere Tage. Strategische Ziele waren die Universität Chile, die Textilfabrik Sumar und die Zona Roja, die Wohngebiete der Arbeiterklasse und der Armen, der sogenannten Pobladores. Zehn Jahre später entstand eine Protestbewegung, in der diese Bewohnerinnen und Bewohner der Elendsviertel eine wichtige Rolle spielten. Städtische Bewegungen, die sich im Kampf um Wohnraum und soziale Rechte formieren, haben in Chile und ganz Lateinamerika eine lange Geschichte. Sie reichen in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zurück und wurden im Kampf gegen die Militärdiktaturen zu Akteuren des Widerstands.

Santiagos Armutszonen entstanden in den 1940er- und 1950er-Jahren, als die Industrie einen Aufschwung nahm und arme Menschen vom Land in die Stadt zogen. Sie siedelten sich im innerstädtischen Bereich in »conventillos«, kollektiven Wohnquartieren mit gemeinsam genutzter Infrastruktur, oder am Stadtrand an. Auf brachliegenden Grundstücken entlang von Flüssen oder in der Nähe von Müllhalden entstanden »campamentos«, informelle Barackensiedlungen. Landbesetzungen auf Grundstücken der Kirche oder eben bei Müllhalden minderten die Gefahr einer polizeilichen Räumung.

Die Pobladores organisierten sich in Nachbarschaftskomitees. Genauso wie die Pobladores selbst waren ihre Organisationen recht heterogen. Viele widmeten sich der Konsolidierung von Wohnraum oder der Selbsthilfe. Andere waren genossenschaftliche Sparvereine. Wieder andere waren politischer, sie forderten den Zugang zu städtischen Dienstleistungen und soziale Rechte. Eines war ihnen gemeinsam: Sie standen politischen Parteien nahe. Vor allem die Kommunistische und die Sozialistische Partei hatten begonnen, die Pobladores zu organisieren. Auch die Christdemokraten und ihre Linksabspaltung Izquierda Cristiana zeigten Präsenz. Die Räte und Vorstände der Basisorganisationen waren zumeist Parteifunktionäre. Sie erhoben den Bedarf, beschafften Finanzmittel für den Kauf von Materialien, die für den Bau von Unterkünften benötigt wurden, unterstützten die Forderungen der Pobladores gegenüber den Behörden und organisierten Alphabetisierungskurse. Für den spanischen Bewegungsforscher Manuel Castells waren die Pobladores und ihre Organisationen ein Zweig innerhalb der Parteien und keine übergreifende soziale Bewegung.

In den 1960er-Jahren polarisierte sich die politische Lage. Die von politischen Komitees oder Kadern angeführten Landbesetzungen nahmen massiv zu. Die christdemokratische Regierung unter Eduardo Frei stellte den Landlosen freie Flächen und Baumaterial zur Verfügung und versuchte, mit Mütterzentren, Jugend- und Sportvereinen und Nachbarschaftsorganisationen die Lage zu kontrollieren. Das scheiterte angesichts hunderttausender Menschen in den Elendsquartieren, aber auch wegen Kapitalmangels und des Widerstands der Bauwirtschaft.

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