Ozeanisches Sprechen

von Simon Nagy

In seinem neuen Buch »a-e-i-o-u« sucht Klaus Theweleit in den Wellen des Mittelmeers nach den Ursprüngen unserer Schriftsprache.

Als Klaus Theweleits Standardwerk Männerfantasien vor vier Jahren neu aufgelegt wurde, erhielt es ein recht eklektisches Cover, das aus einer Collage hellrot eingefärbter Fotografien und Zeichnungen bestand. Die Originalausgabe von 1977 ist ästhetisch deutlich reduzierter gehalten: Auf ihrem weißen Umschlag sitzt neben dem Titel bloß das fingergroße Foto eines Zugs, der bei Hochwasser einen Damm passiert. Durch den Wasserstand und die Perspektive sieht es so aus, als surfe die Lok auf den Wellen. Das Foto greift auf das zweite Kapitel der Männerfantasien vor, das sich um Bilder von Fluten, um Metaphern des Fließenden und um strömende Körpererfahrungen dreht, mit deren Hilfe die Konstruktion von Geschlecht und deren maskulinistische Verteidigungen analysiert werden.

Knapp 50 Jahre später ist Klaus Theweleit nach wie vor vom Wasser gebannt. Er streicht inzwischen sowohl den Zug als auch die unsichtbaren Gleise aus der Gleichung und wendet sich dem Seegang bar aller Metaphorik zu. Denn in ihm, so lautet die These seines neuen Buchs, liegt der Ursprung des Vokalalphabets: derjenigen Art zu schreiben, die heute unsere Gesellschaft prägt, indem sie gesprochene Sprache durch die fünf Zeichen a, e, i, o und u festhaltbar macht. Weil das erste Auftreten dieses Alphabets im Umfeld der Ilias von Homer um rund 800 v. u. Z. datiert wird, geht Theweleit den Umständen der Entstehung des kanonischen Versepos und seiner prägenden Wirkung für unser heutiges Sprechen nach.

Das klingt zunächst ein wenig nach akademischer In-Group-Diskussion. Die Form des Texts durchkreuzt diese Annahme allerdings rasch, denn was auf die Eingangsthese folgt, ist eine leichtfüßig geschriebene, inhaltlich sofort bestechende materialistische Geschichtsschreibung der griechischen Antike. Die Ilias, der Gesang vom griechischen Sieg über Troja, ist Theweleit zufolge vor allem das Medium einer zersiedelten Bevölkerungsgruppe, um sich eine gemeinsame Identität zu konstruieren – eben die der »alten Griechen«, die für uns heute ganz selbstverständlich, homogen und natürlich klingt.

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