Patt auf Zeit

von Hanno Hauenstein

Illustration: Ūla Šveikauskaitė

Seit knapp 40 Wochen demonstrieren abertausende Israelis gegen den autoritären Umbau des Staates. Neben der Frage des Justizcoups diskutiert die Protestbewegung auch vermehrt jene von Besatzung und Annexion.


2514 wörter
~11 minuten

Es ist, ganz ohne Übertreibung, ein Protest historischen Ausmaßes. Die Demonstrationen, die wöchentlich abertausende Israelis auf die Straßen treiben, gehen mittlerweile in die 40. Woche in Folge. Die Menschen protestieren gegen die Bestrebungen der rechten Koalition unter Benjamin Netanjahu, Israels Legislative – beziehungsweise die Gewaltenteilung im Land als solche – zu demontieren. Israels Führung befindet sich damit auf einer holprigen Zielgeraden in Richtung dessen, was der Protest plakativ Israels Abgleiten in die »Diktatur« nennt. Gemeint ist das Zusteuern auf eine illiberale Demokratie, wie sie Viktor Orbán in Ungarn, Jarosław Kaczyński in Polen und Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei als Politikmodell nach autokratischem Vorbild, jedoch in demokratischem Gewand etabliert haben.

Die Gefahr ist fraglos real: Indem sie die Kontrolle über Institutionen wie die Justiz übernehmen und gegen Zivilgesellschaft und Opposition vorgehen, wollen Netanjahus rechtspopulistischer Likud und seine Verbündeten den verfassungsrechtlichen Rahmen des Staates grundlegend umgestalten und ihre Macht dadurch auf Dauer sichern. Die Knesset würde, sollte der Plan aufgehen, zwar weiter zu üblichen Sondierungen und Sitzungen zusammentreten, auch Wahlen würden weiterhin stattfinden – nur eben ohne ernstzunehmende Wahrscheinlichkeit, dass die Rechten ihre Macht auf absehbare Zeit wieder abgeben müssten.

Darüber, was den Justizumbau antreibt, ist viel debattiert worden. Netanjahu, der bereits zweimal zuvor und über beeindruckende 15 Jahre hinweg Ministerpräsident war, verfolgt vor allem ein Ziel: an der Macht zu bleiben, zumal er wegen Korruption vor Gericht steht. Um dies zu erreichen, muss er nicht nur die Proteste überstehen, sondern auch die Koalition zusammenhalten. Oberflächlich betrachtet sollte das nicht schwer sein. Die derzeitige Regierung ist die am weitesten rechts stehende in der Geschichte des Landes. Sie ist die theokratischste und konservativste Regierung, die Israel bislang gesehen hat. Der von Justizminister Yariv Levin (Likud) vorgelegte Plan zum Umbau der Legislative gilt als zentraler Eckpfeiler einer Art populistischer Revolution, die jegliche Beschränkung von Regierungsgewalt aufhebt und den Weg für die formale Annexion des palästinensischen Westjordanlands ebnet. Der Plan verleiht der Koalition zudem die Kontrolle über die Ernennung von Richtern; und er räumt der Knesset die Möglichkeit ein, mit einer einfachen Mehrheit auch solche Gesetze zu verabschieden, die zuvor vom Obersten Gerichtshof für ungültig erklärt worden waren.

Trotz ihrer ideologischen Kompatibilität ist die Koalition nicht frei von Differenzen. Netanjahus Likud, die zwei rechtsextremen Parteien der ethnonationalistischen Hard­liner Itamar Ben-Gvir (Otzmah Jehudit) und Bezalel Smotrich (HatZionut HaDatit), die sephardisch-orthodoxe Partei Schas und die aschkenasisch-orthodoxe Partei Jahadut HaTorah HaMeukhedet vertreten demografisch und soziologisch unterschiedliche Gruppen mit durchaus verschiedenen Interessen. Der Erfolg des Justizumbaus wird letztlich auch davon abhängen, ob diese Koalition bestehen kann.

Immerhin: Die Proteste ließen die Regierung keineswegs kalt. Die drohende Wirtschaftsflucht der oberen Mittelschicht und der Oberschicht an der Spitze des israelischen Technologiesektors setzte Netanjahus Koalition in den letzten Monaten deutlich unter Druck. Während externe Risikokapitalgeber im Zuge der Regierungspläne erwogen, Gelder aus israelischen Unternehmen abzuziehen, begannen mehrere wohlhabende Israelis, Investitionen ins Ausland zu verlegen. Junge europäischstämmige Fachkräfte, die Anspruch auf einen EU-Pass haben, bemühten sich um einen solchen – quasi als eine Art Versicherungspolice.

Den Justizumbau stoppen

Die Protestbewegung verfolgt demgegenüber vorrangig ein Ziel: den Justizumbau, sprich die Aufhebung zentraler Rechtsprinzipien, zu stoppen. Sie ist zumindest mehrheitlich keine Bewegung, die das Land in seinen Grundfesten verändern möchte. Es geht ihr vielmehr um die Aufrechterhaltung eines in sich durchaus fragwürdigen Status quo. So trägt die Protestbewegung etwa das Banner der »Demokratie«, hat allerdings – mit Ausnahme eines kleinen, wenngleich engagierten und in den letzten Monaten zweifellos wachsenden Blocks – wenig zur undemokratischen Militärdiktatur zu sagen, die Israel seit über 50 Jahren im besetzten Westjordanland aufrechterhält.

In der Tat schienen einige führende Figuren der Opposition, die sich zu Leitfiguren der Proteste aufschwangen, allen voran Yair Lapid und Benny Gantz, keinen grundsätzlichen Widerspruch darin zu sehen, in Tel Aviv für die Demokratie zu demonstrieren und parallel beispielsweise die tödliche Razzia der israelischen Armee in Dschenin von Anfang Juli gutzuheißen. Die Rhetorik und die Anliegen der Bewegung spiegeln die der gebildeten, großteils europäischstämmigen israelischen Mittelschicht. Doch auch dies ist ein Bild, in dem in den vergangenen Monaten tiefere Risse sichtbar wurden. Im April dieses Jahres etwa verbrannten während der Proteste in Tel Aviv junge Aktivistinnen und Aktivisten der Militärdienstverweigerer-Gruppe Mesarvot öffentlichkeitswirksam ihre Einberufungsbefehle.

»Was seitens der israelischen und der palästinensischen Linken oftmals als die Achillesferse der Proteste belächelt wird – ihr mehrheitliches Schweigen über die Besatzung beziehungsweise die Annexion Palästinas –, ist ironischerweise auch das, was bislang ihr politisches Störpotenzial und ihre mediale Reichweite ausmachte: die schiere Breite des Bündnisses.« 

Ende August gaben drei israelische Jugendliche im israelischen TV-Sender Channel 13 stellvertretend für knapp 200 weitere bekannt, dass sie ebenfalls den Armeedienst verweigern, um gegen das anhaltende Militärregime in den besetzten palästinensischen Gebieten und den Demokratieverfall in Israel zu protestieren. »Ich denke, dass der Justizumbau ein Instrument in den Händen messianischer, rechtsextremer Politiker ist, um die Besatzung zu vertiefen, illegale Außenposten zu legalisieren und jedwede noch bestehende Beschränkung dahingehend zu beseitigen«, sagte eine Jugendliche. Und: »Die Tatsache, dass ich im Antibesatzungsblock stehe und daran glaube, dass es nur dann Demokratie gibt, wenn sie sowohl für Jüdinnen als auch für Palästinenser gilt, macht mich nicht weniger Teil des Protests.« Für Verweigerung drohen diesen Jugendlichen mehrmonatige Gefängnisstrafen.

Unlängst argumentierte ein offener Brief mit dem Titel »The Elephant in the Room« von annähernd 2.800 Intellektuellen aus Israel und Palästina sowie aus dem Ausland, viele von ihnen öffentlich bekannte Akademikerinnen, in eine ähnliche Richtung. Der Brief verurteilte den Justizcoup sowie die Besatzung der palästinensischen Gebiete und unterstrich die Verbindung dazwischen. Mehr noch, der »eigentliche Zweck« des Justizcoups sei es, » Palästinensern gleiche Rechte vorzuenthalten« und »mehr Land zu annektieren«. Auch von Apartheid ist in dem Brief die Rede.

Besatzung im Blick

In einem Gespräch über den Justizumbau, das ich jüngst mit der israelischen Anwältin und Soziologin Yael Berda führte, fragte ich, ob jene Teile des Protests, die auf diese Weise über die Ablehnung des Justizcoups hinausgehen und auch die Besatzung in den Blick nehmen, das Potenzial haben, zu einer dauerhaften Bewegung zu werden. »Die große Frage«, antwortete Berda, sei, »ob die Protestierenden in der Lage sind, Koalitionen herbeizuführen, die zur Überwindung dieser Situation nötig sind.« Das erfordere Mut. Die Führung der Opposition, allen voran Jair Lapid und Benny Gantz, hätten jedoch große Angst, sich für liberale Rechte von Palästinenserinnen auszusprechen – »wenngleich das natürlich alles andere als radikal wäre«.

Es stimme, so Berda, dass große Teile des Protests in mehreren Punkten, zumal hinsichtlich Israels Besatzungspolitik, von den Zielen der extremen Rechten nicht fundamental abwichen. Die angekündigte Dienstverweigerung der Reservisten sei ein gutes Beispiel: Reservisten aus Eliteeinheiten der israelischen Armee, insbesondere Kampfpiloten der sogenannten »Brothers and Sisters in Arms«-Bewegung, die sich im Zuge der Proteste gründeten, hatten diesen Sommer angekündigt, nicht mehr dienen zu wollen, wenn die Regierung den Justizumbau wie geplant durchsetzen sollte. In ihren Augen war Israel bis zum Antritt dieser Regierung ein zweifellos demokratischer Staat. Ihr Protest, so Berda, sei jedoch keineswegs purer Idealismus, sondern auch durch eine ganz konkrete Angst motiviert, die sich mitunter vor dem Hintergrund zweier aktuell laufender Verfahren gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) sowie vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag erkläre.

Der IGH untersucht derzeit den rechtlichen Status der israelischen Besatzung der palästinensischen Gebiete. In den Augen zahlreicher internationaler Beobachter und einer UN-Untersuchungskommission gilt die Besatzung allein schon aufgrund ihrer Dauer und wegen Israels De-facto-Annexionspolitik als völkerrechtswidrig. Der IStGH ermittelt zudem zu mutmaßlichen Kriegsverbrechen in Palästina. Das jetzt durch den Justizumbau bedrohte Oberste Gericht in Israel hatte Aktionen der Luftwaffe in der Vergangenheit nicht selten für rechtmäßig erklärt. Und selbst wenn nicht, so folgte laut Berda in der Regel ein eher geringfügiges Verfahren. »Viele Reserve-Piloten, die jetzt ihren Dienst verweigern«, erklärte sie, »tun das, weil sie fürchten, Dinge, die sie unter dem Deckmantel liberaler Rechtsstaatlichkeit in den besetzten Gebieten jahrzehntelang tun konnten, nicht mehr tun zu können.«

Trotzdem sieht sie angesichts der jetzigen Situation keinen Anlass für Zynismus oder gar Defätismus. Ein großer Erfolg der Proteste bestehe in ihren Augen in der Verschiebung im öffentlichen Diskurs, die sie zweifellos hervorrufen. Immer mehr Israelis verstünden heute, worauf das Expansionsdenken der Siedler letztlich aus sei: die verbleibende Macht von Palästinenserinnen auf allen Ebenen und auch innerhalb Israels zu dezimieren. Aber auch die Rechte weiterer Minderheiten zu beschneiden – etwa die von Frauen, LGBTIQ und Menschen mit Behinderungen. Die Proteste veränderten die politische Landkarte innerhalb Israels anerkannter Grenzen demnach gewaltig. »Liberale, die Teil der sogenannten Mitte waren, verstehen dieser Tage, was ich die Dreifaltigkeit nenne: die Beziehung zwischen Besatzung, Siedlungsprojekt und autoritärem Justizputsch«, so Berda.

Gleichzeitig gilt: Was seitens der israelischen und der palästinensischen Linken oftmals als die Achillesferse der Proteste belächelt wird – ihr mehrheitliches Schweigen über die Besatzung beziehungsweise die Annexion Palästinas –, ist ironischerweise auch das, was bislang ihr politisches Störpotenzial und ihre mediale Reichweite ausmachte: die schiere Breite des Bündnisses. Es erstreckt sich schließlich in Bereiche aus Politik, Wirtschaft, Justiz und Zivilgesellschaft und genießt selbst in Teilen der liberalen israelischen Rechten große Zustimmung.

Im Juni waren die Bemühungen des israelischen Präsidenten Jitzchak »Buji« Herzog, die Wogen zu glätten und einen Kompromiss zwischen Regierung und Opposition in zentralen Punkten des Justizumbaus zu vermitteln, bekanntlich gescheitert. Seither versucht die Regierung ihr Projekt nicht mehr in Form eines Gesamtpakets von Gesetzesvorlagen durchzuboxen, sondern schrittweise, mit einem Gesetz nach dem anderen. Um dies zu verhindern, hat die Protestbewegung ihre Aktivitäten in den vergangenen Monaten ausgeweitet – und auch in der Wahl ihrer Form deutlich verschärft. Zusätzlich zu den wöchentlichen Massendemos riefen die Protestierenden etwa mehrfach einen »Tag des Widerstands« aus. In größeren israelischen Städten wie Haifa, Tel Aviv und Jerusalem blockierten sie Hauptverkehrsstraßen, digitale Dienste wurden landesweit unterbrochen.

Mehrere Tausend Demonstrierende erstürmten im Hochsommer gar den Terminal 3 des israelischen Flughafens, die Polizei in Tel Aviv setzte Wasserwerfer gegen sie ein, dabei war das Wasser mit einer abscheulich stinkenden Substanz versetzt. In der Außenwahrnehmung hat man sich im Rhythmus wachsender Frustration und Polarisierung an Bilder von Protesten gewöhnt, die augenscheinlich eher Ausschreitungen in Palästina gleichen. Diese Assoziation ist kein Zufall: Genau jene Minister dieser Regierung, die die Gewalt gegen Palästinenserinnen am explizitesten befürworten, verteidigen regelmäßig auch das harte Durchgreifen gegen die Protestierenden.

So etwa Itamar Ben-Gvir. Seit dem Minister für Nationale Sicherheit de facto die israelische Polizei untersteht, ist der Ton rauer und die Gewalt auf den Straßen spürbarer geworden. Ben-Gvir hat mehrfach gezeigt, dass er bereit ist, die Polizei gegen »Feinde« einzusetzen, sprich gegen politische Gegner sowie gegen Palästinenser – ob israelische Staatsbürgerinnen oder nicht. Einige der brutalsten Bilder der Proteste, die in den letzten Monaten auf Social Media kursierten, zeigten Situationen, die die Entfernung palästinensischer Flaggen durch Sicherheitskräfte beinhalteten. Ben-Gvir hatte die Polizei zu Beginn des Jahres angewiesen, jede in der Öffentlichkeit gezeigte palästinensische Flagge zu entfernen.

Wo Ben-Gvir politisch steht, hat er in der Vergangenheit wiederholt deutlich gemacht. Er huldigte etwa öffentlich dem Terroristen Baruch Goldstein, der 1994 in eine Moschee in Hebron stürmte und 29 Palästinenser umbrachte. Nachdem die israelische Polizei diesen August zwei militante Siedler verhaftet hatte, die verdächtigt worden waren, einen palästinensischen Teenager in dem palästinensischen Dorf Burqa ermordet zu haben, lobte Ben-Gvir die Angreifer. Die Liste an Zitaten, in denen er oder sein Koalitionskollege, Israels Finanzminister Bezalel Smotrich, in den vergangenen Monaten direkt oder indirekt zu ethnischer Gewalt gegen Palästinenserinnen aufriefen, ist zu lang, um sie hier im Detail abzubilden. Was die beiden Politiker eint, ist ein ungebrochener Wille, den Justizumbau umzusetzen. Für sie ist er Mittel zum Zweck, um dem ultimativen Ziel der Siedler näherzukommen: formale Annexion und Vertreibung all jener Palästinenser, die sich israelischer Souveränität widersetzen. »Wir sprechen über potenziellen Völkermord«, sagt die Soziologin Berda. »Smotrich hat selbst erwähnt, dass es eine zweite Version der Nakba geben könnte. Itamar Ben-Gvir ist Kahanist. Diese Leute glauben an die sprichwörtliche Auslöschung von Palästinensern.«

Zum Äußersten entschlossen

Inzwischen ist der erste Teil des Justizumbaus – die Abschaffung der sogenannten Angemessenheitsklausel – verabschiedet. Das Oberste Gericht ist jüngst zu ersten Anhörungen zusammengetreten, in denen es darum geht, zu einer Entscheidung zu gelangen, ob das Parlament die Urteilsgewalt des Gerichts so vehement einschränken darf wie geplant. Sollte das Oberste Gericht die Abschaffung der Angemessenheitsklausel als verfassungswidrig einstufen, wird Israel aller Voraussicht nach auf eine Verfassungskrise zusteuern.

»Die Protestbewegung hat eine einzigartige politische Chance, die Mobilisierung noch tiefgreifender mit ebenjenen Tendenzen zu verknüpfen, deren konsequente Umsetzung den Justizumbau von rechts motivieren, die jedoch weit vor die jetzige Legislatur zurückreichen: Annexions-, Siedlungs- und Verdrängungspolitik sowie Normalisierung von Apartheid.« 

Der Hintergrund: Das Land besitzt keine schriftlich festgelegte Verfassung im konventionellen Sinn, nur eine Reihe an Entscheidungen des Obersten Gerichts, die verfassungsmäßige Rechte konstituieren. Die Angemessenheitsklausel galt bislang als wichtigstes normatives Instrument zur Kontrolle der Exekutive. Sie erlaubte dem Obersten Gericht, Beschlüsse des Parlaments entlang von Parametern wie Menschenrechten und Verhältnismäßigkeit zu prüfen. Sollte Israels Oberstes Gericht entscheiden, dass das Gesetz zur Abschaffung der Angemessenheitsklausel selbst verfassungswidrig ist, würden exekutive Organe bald selbst entscheiden müssen, auf wen sie hören. Zudem erstreckt sich die Angemessenheitsprüfung auf Personalentscheidungen. Ihre Abschaffung würde es sehr viel einfacher machen, führende Staatsangestellte wie die Generalstaatsanwältin zu entlassen – und durch Gleichgesinnte zu ersetzen.

Weitere Gesetzentwürfe stehen unmittelbar an. Unklar ist, ob es der Protestbewegung tatsächlich gelingen kann, diese Vorhaben zu stoppen oder auf Eis zu legen. Derzeit wirkt es so, als seien – grob simplifizierend gesprochen – beide Seiten, sowohl die Regierung als auch die Protestbewegung, zum Äußersten entschlossen.

Die politische Situation im Land gleicht einem explosiven Patt auf Zeit. Sie birgt das Risiko von mehr Polarisierung, mehr Eskalation und mehr Gewalt. Je stärker das Anti-Netanjahu-Bündnis auf seine disruptive Macht setzt, desto mehr dürfte die Regierung ihre teils radikalisierte Anhängerschaft mobilisieren, insbesondere in den Reihen der Siedlungsbewegung. Zugleich wird Netanjahu wohl versuchen, das Momentum der Proteste durch weiteren Aufschub gegen null laufen zu lassen. Dass die Protestbewegung sich bald erschöpft, scheint indes eher unwahrscheinlich zu sein.

Dieser Tage hat sie eine einzigartige, politische Chance, die Mobilisierung noch tiefgreifender mit ebenjenen Tendenzen zu verknüpfen, deren konsequente Umsetzung den Justizumbau von rechts motivieren, die jedoch weit vor die jetzige Legislatur zurückreichen: Annexions-, Siedlungs- und Verdrängungspolitik sowie Normalisierung von Apartheid. Wenn die Proteste vermitteln können, dass Letzteres Israels Demokratie mindestens genauso sehr infrage stellt wie die Demontage der Justiz, könnten sie den Israel/Palästina-Diskurs nachhaltig und sehr grundlegend verändern.

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