Hobsbawm über
die Intellektuellen

von David Mayer

Wiener Tagebuch, Nr. 1, Jänner 1979


513 wörter
~3 minuten

Eric J. Hobsbawm (1917–2012) war der wohl international bekannteste marxistische Historiker des 20. Jahrhunderts. Obwohl er zeitlebens Mitglied der Kommunistischen Partei Großbritanniens blieb, entsprachen sein Denkstil und seine Interventionen eher dem Typus des dissidenten Kommunisten als jenem des loyalen Parteigängers. Es ist daher kein Zufall, dass er Kontakte zu Franz Marek und der Gruppe um das Wiener Tagebuch pflegte und Texte aus seiner Feder dort regelmäßig erstmals auf Deutsch veröffentlicht wurden. Hobsbawm zählte auch zu den Ersten, die Antonio Gramscis Ideen ab den 1960er-Jahren im englischsprachigen Raum zugänglich machten. Dies floss auch in seine Auseinandersetzung mit einem Thema ein, dass ihn immer wieder beschäftigte: die Rolle »der« Intellektuellen in der Moderne, ihr Verhältnis zur Arbeiterbewegung und ihr möglicher Beitrag zu einer fortschrittlichen oder gar transformatorischen Politik. Dabei verstand er Intellektuelle tendenziell als synonym mit »akademisch gebildet«. Hintergrund: Der sprunghafte Anstieg der Zahl von Universitätsabsolventen in den 1960er- und 1970er-Jahren und die Rolle der Studierenden im Umbruch von 1968 hatten diese Gruppe erstmals als mehrheitlich links oder zumindest progressiv gezeigt.

Eric Hobsbawm

Intellektuelle, Arbeiterbewegung 
und Klassenkampf

Ich gehe [...] von einer Entwicklung in der kapitalistischen Welt aus, nämlich der Existenz einer großen Gruppe von Intellektuellen (möglicherweise die Mehrzahl), die der kapitalistischen Gesellschaft kritisch gegenüberstehen. [...] [In] den entwickelten Industriestaaten standen die meisten Studentenbewegungen zwischen 1848 und 1960 – wenn es überhaupt welche gab – politisch rechts [...].

[...]

Intellektuelle lassen sich daher am einfachsten als Menschen definieren, die erfolgreich einen höheren Bildungsweg absolviert haben. Das gilt für »organische« wie »traditionelle« Intellektuelle [im Sinne Gramscis, Anm.]. 

[...]

Noch eine Tatsache ist von besonderer praktischer Bedeutung: die Größe der Intellektuellen als soziale Gruppe. Im Gegensatz zur Vergangenheit, wo die Intellektuellen meistens eine relativ (oft auch absolut) sehr kleine Gruppe darstellten, bilden sie heute große Gruppen, die immer weiter wachsen. 

[...]

Wenn wir uns nun der Gegenwart zuwenden, springt sofort eines ins Auge: In den letzten Jahren – vor allem seit 1968 – haben Gruppen von Intellektuellen in den politischen sozialen Bewegungen ihrer Länder eine immer wichtigere Rolle gespielt. Das gilt für die entwickelten kapitalistischen Länder, die sozialistischen Staaten, aber auch für die Länder der Dritten Welt. [...]
Die hier skizzierte Rolle der Intellektuellen stützt sich vorab auf drei wichtige Vorteile, die sie als Gruppe genießen. Sie können sich artikulieren und haben Zugang zu den Medien; sie besitzen auch unter ungünstigen Umständen noch gewisse Kommunikationsstränge; in den Schulen und Universitäten finden sie fertige Institutionen, wo sie sich versammeln und mit Hilfe derer sie ihren Aktivitäten auch eine gewisse Öffentlichkeit sichern können. [...]
Die große Kraft der Intellektuellen bestand in ihrer Fähigkeit, Bewegungen in einer Situation auszulösen, wo alle anderen Kräfte außerhalb der offiziellen Machtstrukturen unfähig waren zu handeln. Aber wenn niemand der Führung der Intellektuellen folgt, dann erweisen sich die von ihnen ausgelösten Bewegungen fast immer als zu schwach, um wirkliche Umwälzungen zu erwirken. Studenten können Revolutionen auslösen, aber nicht machen. Und darin liegt die eigentliche Schwäche der Positionen der Intellektuellen.
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