Auf der Strecke

von Sarah Kleiner

Fotos: Sarah Kleiner

Malerische Gegend, gefährliche Pfade: Der Passo della Morte ist eine zentrale Fluchtroute zwischen Italien und Frankreich. Eine Reportage vom Grenzpass.


2629 wörter
~11 minuten

Der Weg in ein neues Leben beginnt ganz sachte, fast unbemerkt. Kein Hinweisschild, kein Torbogen, kein Startschuss. Man verlässt die asphaltierte Straße und findet sich auf einem Kiesweg wieder. Anfangs ist er noch breit. Die Sonne scheint, Bäume und Sträucher recken ihre Zweige in den Weg, der Himmel über ihnen ist an diesem Herbstnachmittag blau. Unter den Füßen knirscht der Kies. Der Passo della Morte präsentiert sich auf den ersten Metern als harmloser Wanderweg durch ein grünes Tal. Die Gedanken an jene Menschen, die diesen Weg zuvor gegangen sind und nicht überlebt haben, schiebt man beiseite.

Im Volksmund gibt es für den legendären Fluchtweg über die französische Grenze zwei Namen. Als »Pass des Todes« ging er in die Geschichte ein, man kennt ihn aber auch als »Sentiero della Speranza«, also als »Weg der Hoffnung«. Die beiden Routen decken sich genau genommen aber nur zum Teil. Nicht zu verwechseln ist der Passo della Morte mit einer gleichnamigen Wanderroute im Trentino. Der Pfad am Mittelmeer hat eine lange, bedeutsame Geschichte. Er führt über die letzten Ausläufer der mediterranen Alpen und verbindet die Orte Grimaldi auf italienischer und Menton auf französischer Seite. In den 1930er- und 1940er-Jahren flohen über diesen versteckten Bergpfad die Kommunistinnen, Juden und Partisanen, um Benito Mussolinis faschistischem Italien zu entkommen.

Eine historische Aufzeichnung über den Passo della Morte aus der Zeit des Faschismus stammt von einem jüdischen Beamten aus St. Pölten. Robert Baruch schickte nach seiner geglückten Flucht nach Frankreich ein fünfseitiges Schreiben an zwei befreundete Familien in Meran. In einer Skizze zeichnete er den Weg nach, den er selbst Ende der 1930er-Jahre gegangen war. Historiker vermuten, dass sie vielen Flüchtenden als Grundlage diente, um – auch mit Unterstützung kooperationswilliger Grenzbeamter – nach Frankreich zu kommen. Baruch selbst wurde am 28. August 1942 in Marseille verhaftet, anschließend in das Sammellager Drancy überstellt, nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Ein Stolperstein in St. Pölten erinnert heute an seine Geschichte und damit auch an den legendären Fluchtweg.

Heute sitzt eine Enkelin des »Duce« im Europaparlament, eine andere in der römischen Stadtregierung. Und über den Passo della Morte fliehen Menschen aus Afrika und Nahost. Sie wollen nach Frankreich oder weiter in den Norden, auf der Suche nach Arbeit, Bleibe, Zugehörigkeit – auf der Suche nach dem neuen Leben. Und hier, wo die italienische Riviera auf die französische Côte d’Azur trifft, wo Millionäre ihr Vermögen in Villen und Yachten parken, ist kein Durchkommen.

Soldaten und Polizisten sind an den Grenzübergängen Ponte San Ludovico und Ponte San Luigi stationiert. Alle Züge aus Italien werden angehalten und nach Migranten abgesucht, der Verkehr wird kontrolliert. Racial Profiling ist dabei an der Tagesordnung. Die Vigipirate wurde hinzugezogen, eine Anti-Terror-Einheit der Franzosen, deren Mitglieder auch als »Jäger der Alpen« bekannt sind. Sie und ihre Hunde suchen zu Lande nach Menschen, die es über die Grenze versuchen. Drohnen und Helikopter suchen vom Himmel aus nach ihnen. Eine symbolische Maßnahme, meinen Einheimische, um die Bevölkerung zu beschwichtigen, nachdem die meisten Geflüchteten es inzwischen in der Nacht probieren. Personen, die ohne gültige Papiere aufgegriffen werden, werden postwendend zurück nach Italien gebracht. Jeden Tag sind es an die 80 Menschen.

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