»Des müsst jo eigentlich scho Routin’ sein für Sie, oder?«, fragt einer von hinten. »Na jo, Club 2 is scho’ was anderes«, schallt’s von vorn zurück. Wenige Augenblicke später sind diejenigen, die eben noch scheinbar unbeobachtet miteinander geplaudert haben, auch im Bild zu sehen, in der Mitte und im Vordergrund Trautl Brandstaller, die schließlich doch recht routiniert anhebt, das Geraune zum Verstummen zu bringen: »Guten Abend, meine Damen und Herren, ich begrüße Sie sehr herzlich beim Bürgerforum, einer neuen Sendung des ORF.« Das Format habe man deshalb eingerichtet, weil man das Gefühl habe, dass die Bürger immer dann, wenn es um Politik gehe, nicht ausreichend zu Wort kämen. Und weil »die, die von den Maßnahmen betroffen sind, die, die mit den Ergebnissen der Politik zu leben haben, zu kurz kommen«, sagt Trautl Brandstaller inmitten eines Pulks von Frauen und Männern – einer hält ein Transparent hoch – in die Kamera. Die Betroffenen an jenem Abend, es ist der 1. Mai 1984, sind über 300 Arbeiter aus den Fabriken der Vereinigten Edelstahlwerke (VEW) entlang der Mur-Mürz-Furche. Viele haben ihre Arbeitsplätze im Zuge der Krise der Verstaatlichten Industrie schon verloren, die übrigen fürchten den Verlust der ihren. In einer leeren Fabrikhalle im obersteirischen Kapfenberg – der private Betreiber hatte den Standort eben stillgelegt – haben sie an diesem Abend in einer eigens errichteten Arena Platz genommen, um die »Krise der Obersteiermark« zu diskutieren. Unten, zu ebener Erd’, sitzen mit versteinerter Miene die Verantwortungsträger: ein junger Ferdinand Lacina, damals Staatssekretär für die Verstaatlichte Industrie im Bundeskanzleramt, Oskar Grünwald, seit 1978 Generaldirektor der Österreichischen Industrieholding AG (ÖIAG) und damit oberster Manager der Verstaatlichten, außerdem Kammer- und Gewerkschaftsfunktionäre, Landespolitiker und Wirtschaftswissenschafter.
Bis die Gruppen miteinander ins Gespräch kommen, dauert es, schließlich hat die Moderatorin keine Eile, von den Betroffenen zu den »Offiziellen« überzuleiten. Ein zorniger Arbeiter nach dem anderen erzählt zunächst von gebrochenen Versprechungen und fatalen Managementfehlern, von abtransportierten Maschinen und geschlossenen Fabriken. Die Männer – im Laufe der Sendung wird tatsächlich nur eine Frau sprechen, und das erst in der zweiten Hälfte – sind jeden Alters und teilen ein beeindruckendes politisches Bewusstsein. Zu Wort melden sich auch zahlreiche Arbeiterkommunisten – aus Fohnsdorf Sepp Kampl, aus Knittelfeld Leopold »Poidl« Pacher, aus Donawitz der Oktoberstreik-Veteran Karl Russheim –, aber auch dissidente Sozialdemokraten wie Horst Skvarca. Der damalige Betriebsratsvorsitzende des Judenburger Gussstahlwerks war der SPÖ zur Belastung geworden, nachdem er den Gewerkschaftsspitzen in den VEW und bei den Metallern wiederholt öffentlich vorgeworfen hatte, im Dienste des Managements Druck auf Betriebsräte auszuüben. Nach 43 Minuten darf der steirische AK- und ÖGB-Präsident Franz Ileschitz ans Mikro. »Die Redezeit von drei Minuten gilt auch für die Offiziellen, gö«, mahnt ihn Brandstaller.
An den besten Adressen
Das erste Mal habe ich von diesem bemerkenswerten Moment in der Geschichte des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Österreich im Sommer 2019 im Gastgarten des Wiener Café Landtmann erfahren. Ich wollte Trautl Brandstaller für den ersten Beirat des TAGEBUCH gewinnen, meine Herkunft aus der Obersteiermark kam im Laufe des Abends auch zur Sprache. Es war der Beginn der Verbindung zwischen uns und ihr, zwischen der jungen Zeitschrift und der erfahrenen Journalistin, die späterhin auch zur Mitherausgeberin werden sollte.
Zu diesem Zeitpunkt war sie schon seit mehr als zwei Jahrzehnten in Pension, in den dreien davor war ihr Eindrucksvolles gelungen: Trautl Brandstaller war an den nominell besten Adressen des bürgerlichen Journalismus in diesem Land untergekommen und hatte sich dennoch ihr eigenständiges linkes Profil bewahrt. Nach dem Abschluss ihres Jus-Studiums dockte sie 1963 bei der Nachrichtenagentur der österreichischen Bischofskonferenz an, der Kathpress. Bis in die späten 1960er-Jahre arbeitete sie anschließend für Die Furche und das Neue Forvm Günther Nennings – damals wie Brandstaller ein Katholik und Linker zugleich. Nach der Gründung des Profil wechselte sie ebendorthin in die Innenpolitik, ehe sie 1975 im ORF aufschlug.
Am neuen Küniglberg produzierte man seit 1972 das frauenpolitische Magazin Prisma. Unter Brandstallers Leitung wanderte das Format 1976 vom Samstagnachmittag auf einen Platz im Hauptabendprogramm am Sonntag. Prisma setzte Maßstäbe im gesamten deutschsprachigen Raum: mit Beiträgen zur Lage von Fließbandarbeiterinnen in Österreich oder zur Arbeitslosigkeit unter ausgelernten jungen Frauen, über Frauen, die abgetrieben hatten – was seit Jänner 1975 mit der Fristenlösung innerhalb der ersten drei Monate straffrei geworden war –, oder über weibliche Körper zwischen Sexualisierung (für den Kommerz) und Tabuisierung (für die Moral).
Es ist schwer zu sagen, wer am Ende mehr profitiert hat: die Aktivistinnen der zweiten Welle der Frauenbewegung, die ihre Themen bei Prisma bestens aufgehoben sahen; das sozialdemokratische Reformprojekt und insbesondere die innerhalb der SPÖ zu jener Zeit nach oben strebenden Politikerinnen wie Johanna Dohnal; oder Brandstaller selbst, deren eigene politische Anliegen ihre Entsprechung in den Straßen und Plenarsälen fanden. Unbestritten ist, dass ihr beide Sphären, die in den frauenpolitischen Auseinandersetzungen jener Jahre aufeinandertrafen, nicht fremd waren. Und dass sie es ihr – neben ihrem Beharrungsvermögen – leichter machten, so manchen ORF-internen Widerstand zu überwinden.
Zusätzlich zu Prisma moderierte Brandstaller gelegentlich die Diskussionssendung Club 2 und gestaltete abendfüllende Dokumentationen; 1986 stieg sie schließlich zur Leiterin der Hauptabteilung Gesellschaft, Jugend und Familie auf, was sie bis 1992 auch blieb.
Es ist wohl kein Zufall, dass die meisten Würdigungen Trautl Brandstallers politische Positionen, von ihrer feministischen Haltung einmal abgesehen, unerwähnt ließen. Dabei war sie vermutlich die einflussreichste sozialistische Journalistin, die die Zweite Republik gesehen hat. Die soziale Frage war ihr Ausgangspunkt, auch, aber nicht nur für die Analyse der Geschlechterverhältnisse. Fremd blieb ihr daher, wer unter Feminismus schon paritätisch besetzte Vorstandsetagen verstand. Fremd wurde ihr aber auch die Sozialdemokratie selbst zunehmend. Früher als andere erkannte Trautl Brandstaller die neoliberale Wende, die die Partei unter Franz Vranitzky vollzog und von der sie sich organisatorisch und ideologisch bis heute nicht erholen sollte. In den 1990er- und 2000er-Jahren blieb sie nicht nur gegenüber allen Regungen links von SPÖ und Grünen aufgeschlossen, wo sie konnte, leistete sie auch selbst einen Beitrag zu ihrer Sammlung, etwa mit jenen Salons, zu denen sie bis vor wenigen Jahren regelmäßig in ihre und Heinz Kellers Wohnung lud.
Mit Keller, selbst eine schillernde Figur, war Trautl Brandstaller von den späten 1970er-Jahren an verheiratet. Der frühere Richter und Staatsanwalt war einst eine treibende Kraft der Reformen unter und an der Seite des ehemaligen Justizministers Christian Broda gewesen und, nach einem Intermezzo als ORF-Generalsekretär und Rechtsanwalt, 1986 zu einem von zwei Zentralsekretären der SPÖ berufen worden. Als solcher musste er zwei Jahre später zurücktreten, nachdem die Kronen Zeitung eine Kampagne wegen angeblich nicht versteuerter Funktionärsentschädigungen lanciert hatte. Dass Keller, wie sich später herausstellte, zu viel und nicht zu wenig Steuern gezahlt hatte, konnte daran nichts mehr ändern. Der Krone Ezzes kamen übrigens vom späteren sozialdemokratischen Kanzler Werner Faymann.
Glaube an linke Erneuerung
Zurück nach Kapfenberg. Nach mehr als eineinhalb Stunden macht sich Brandstaller an die Abmoderation. Ein Dialog ist es nicht geworden. Die Welten, die hier aufeinandergetroffen sind, auch sie sind sich fremd geworden: eine mit der Krise des Fordismus um ihre Existenz ringende Industriearbeiterschaft und die ihrer Klasse längst entwachsene Führungsschicht einer sozialdemokratischen Regierungspartei. Brandstaller ersucht bei jenen um Verständnis, die nicht mehr zu Wort gekommen sind, bedankt sich fürs Kommen und die »im Wesentlichen demokratisch geführte Diskussion«. Für das nächste Bürgerforum »im Juli« wünscht sie sich noch eine »ebenso rege Stimmung«, »und vielleicht kriegen wir dann ein Open End, das wär ganz schön«.
Ein Open End gab es freilich genauso wenig wie eine nächste Sendung. Das Bürgerforum wurde nach nur einer Ausgabe eingestellt. 2007 holte der ORF das Konzept erneut hervor, bis heute wird das Format unregelmäßig, vielleicht zweimal im Jahr ausgestrahlt, was niemanden weiter stört. Von der gleichnamigen Sendung im Privatsender Puls 24 muss man wiederum nur wissen, dass es sie gibt und man sie meiden sollte.
Mit Interesse und Sympathie verfolgte Trautl Brandstaller zuletzt die Übernahme der SPÖ durch Andreas Babler. »Die Querschüsse aus dem Burgenland von Hans Peter Doskozil und zuletzt auch aus Wien von Bürgermeister Michael Ludwig werden die Erneuerung der SPÖ und das Erstarken linker Kräfte nicht aufhalten«, schrieb sie vergangenen November in dieser Zeitschrift – im letzten Artikel, der überhaupt von ihr erschienen ist.
Mitte Dezember letzten Jahres telefonierten wir noch einmal. Trautl erholte sich allmählich von einem Oberschenkelhalsbruch, war aber zuversichtlich, im neuen Jahr ihre Rehabilitation beginnen zu können. Dazu ist es nicht mehr gekommen. Am 1. Jänner ist Trautl Brandstaller verstorben, sie wurde 84 Jahre alt.
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