Schöne alte Hüte

von Jana Volkmann

NACHDRUCK #8 | Nach welchen Kriterien treffen wir eine Auswahl für unsere Rezensionen?


484 wörter
~2 minuten

Was ist die Halbwertszeit von Literatur? Wie rasch verliert ein Buch an Relevanz? Zugegeben, die Antworten dürften verschieden ausfallen, je nachdem, ob man etwa eine Buchhändlerin, eine Popliteraturleserin oder einen Altphilologen fragt. Aber man darf davon ausgehen, dass etwas, das im Regelfall eher Jahre als Monate gebraucht hat, um geschrieben und lektoriert, korrigiert, vertrieben, gelesen und diskutiert zu werden, nicht binnen weniger Wochen verglüht.

Dennoch herrscht im Feuilleton ein Aktualitätsgebot. Die Logik ist eigentlich einleuchtend: Wer eine Besprechung liest, will im Idealfall das Buch lesen, sprich: kaufen. Dafür geht er oder sie, wiederum im Idealfall, in den Buchladen. Aber weil der Platz in den Regalen eingeschränkt ist und die Liste der Neuerscheinungen endlos, liegen neben ausgewählten Titeln überwiegend aktuelle Publikationen auf. Also besser gleich nur die neusten Bücher besprechen. Und weil die Buchhandlungen zusehen, dass sie die im Feuilleton besprochenen Titel auf Lager haben, beißt sich die Katze in den Schwanz. Das ist nicht der einzige Faktor, der dazu führt, dass Aktualität das Entscheidungskriterium bei der Auswahl von Büchern für Rezensionen ist. Um es aber deutlich zu sagen, diese Aktualitätslogik ist eine Marktlogik, mit Ästhetik oder gesellschaftlich-politischer Relevanz hat sie nichts am Hut. Das politisch aktuellste Buch, das ich zuletzt gelesen habe? Ursula K. Le Guins The Dispossessed aus dem Jahr 1974.

Absurderweise scheint das mit der Aktualität niemandem zu schmecken: Verlage müssen manchmal zusehen, wie großartige Bücher kurz nach Erscheinen, aus welchen Gründen auch immer, keine Beachtung finden. Kritiker:innen lesen sowieso immer am Limit des Menschenmöglichen und sollen Wochen im Voraus die digitalen Druckfahnen lesen, damit Rezensionen haargenau am Erscheinungstag gedruckt werden. Buchhändler:innen haben keine Freude am Remittieren. Leser:innen dürfte es eigentlich gleich sein, ob ein Buch nun im März oder November oder vor zwei Jahren erschienen ist, allein, sie kriegen’s vielleicht gar nicht erst zu Gesicht.

Nachgerade merkwürdig wirkt es da, dass Anne Webers Roman Kirio, vor knapp sieben Jahren schon bei S. Fischer publiziert, nun bei Matthes & Seitz Berlin wieder aufgelegt wurde – in einer überarbeiteten Fassung. Na und, ist doch ein tolles Buch, könnte man zu Recht entgegnen; begeistert zeigt sich jedenfalls Rezensent Sebastian Schmidt. Auch wir folgen dem ungeschriebenen Gesetz, dass rezensierte Bücher aktuell sein sollen – das heißt, falls sie mehr als ein halbes Jahr alt sind, braucht es schon besonders gute Argumente, wenn sie doch noch besprochen werden sollen. Bei den vielen Büchern, die Monat um Monat, Tag für Tag erscheinen, wäre der intellektuelle Rückstau sonst riesig, und wir wollen ja auch, dass die rezensierten Bücher leicht zugänglich sind. Aber wenn eine Buchhändlerin, eine Popliteraturleserin und ein Altphilologe in eine Bar gehen, diskutieren sie hoffentlich auch noch über die Bücher von vorletztem Jahr.

Lob, Kritik, Anregungen:

nachdruck(at)tagebuch.at

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