Vergleich und Agenda

von Samuel Stuhlpfarrer

Editorial TAGEBUCH 3|2024

»Analogisierdrang, Vergleichsverbot, beide in politischer Funktion«, so fasst Drehli Robnik in seinem Beitrag über Jonathan Glazers Oscar-prämierten Film The Zone of Interest eine jüngere Kontroverse rund um den Krieg in Gaza, jene zwischen Lula da Silva und Annalena Baerbock, zusammen. Wir erinnern uns, Ende Februar setzte Brasiliens Präsident das, »was im Gazastreifen und mit dem palästinensischen Volk geschieht«, mit dem Holocaust gleich, woraufhin die deutsche Außenministerin feststellte: »Der Holocaust ist mit nichts zu vergleichen.«

Keine Frage: Lulas Einlassung war jenseitig; einer jener Vergleiche, bei denen es einem »unwohl« wird, wie es die Politikwissenschafterin Jelena Subotić, die Benjamin Opratko für unser letztes Heft ausführlich zu NS-Bezügen im Schatten des Gaza-Kriegs befragte, formuliert hatte. Auffällig ist dennoch: Derart entschieden gab sich die deutsche Bundesregierung bzw. ihre Repräsentanten zuletzt nicht immer, wenn es darum ging, irregeleitete Bezugnahmen auf den Holocaust zu verurteilen. Als Israels Botschafter bei den Vereinten Nationen, Gilad Erdan, bei seiner Rede vor der UN-Vollversammlung einen gelben Stern mit der Aufschrift »Nie wieder« trug, blieb der deutsche Ordnungsruf jedenfalls aus. Bundeskanzler Olaf Scholz wiederum stand letzten Herbst nur wenige Meter entfernt, als Benjamin Netanjahu von der Hamas als den »neuen Nazis« sprach. »Analogisierdrang, Vergleichsverbot, beide in politischer Funktion« – und das auch noch in einem Satz – servierte auch der israelische Armeesprecher Arye Sharuz Shalicar, der über den 7. Oktober Ende letzten Jahres in der Taz sagte: »Dieser Mini-Holocaust ist mit nichts zu vergleichen.« Empörung schlug Shalicar dafür keine entgegen, hierzulande war er noch im Februar wohlgelittener Gesprächspartner im ZiB 2-Studio.

Wessen Holocaust-Vergleich heute Entrüstung hervorruft, entscheidet sich offensichtlich weniger an der Akkuratesse des Vergleichs selbst als an der politischen Agenda desjenigen, der ihn anstellt. Das musste Jonathan Glazer bei der 96. Oscar-Verleihung Mitte März schließlich auch selbst erfahren. »Wir stehen heute hier«, sagte er da in der später inkriminierten Passage seiner knapp einminütigen Dankesrede, »als Männer, die es zurückweisen, dass ihre Jüdischkeit und der Holocaust von einer Besatzung gekapert werden, die zu einem Konflikt für so viele unschuldige Menschen geführt hat. Seien es die Opfer des 7. Oktober in Israel oder die des andauernden Angriffs auf Gaza, sie alle sind Opfer der Entmenschlichung.« Es dauerte nicht lange, da veröffentlichte das Branchenmagazin Variety einen von mehreren Hundert jüdischen Filmschaffenden unterzeichneten offenen Brief, in dem Glazer unter anderem vorgeworfen wurde, er habe »die israelische Nation, die ihre eigene Auslöschung abzuwenden versucht«, mit dem Nazi-Regime gleichgesetzt.

Abgesehen vom Direktor der Gedenkstätte Auschwitz Piotr Cywiński, der Glazer öffentlich in Schutz nahm (»Glazer hat eine universelle moralische Warnung vor Entmenschlichung ausgesprochen«), verteidigte den Regisseur vor allem Naomi Klein. Die Autorin, in den letzten Monaten in der US-amerikanischen Linken eine der lautesten Stimmen für einen sofortigen Waffenstillstand, nahm Glazers Rede zum Anlass, um im Guardian grundsätzliche Fragen in diesem erinnerungspolitischen Spannungsfeld aufzuwerfen: »Sollte der Holocaust ausschließlich als jüdische Katastrophe betrachtet werden oder als etwas Universelleres, das eine größere Anerkennung für alle Gruppen, auf deren Ausrottung abgezielt wurde, erfordert? War der Holocaust ein einzigartiger Bruch in der europäischen Geschichte oder eine Wiederkehr früherer kolonialer Völkermorde, samt einer Rückkehr der dabei entwickelten und eingesetzten Techniken, Logiken und falschen Rassentheorien? Bedeutet ›Nie wieder‹ nie wieder für niemanden oder nie wieder für die Jüdinnen und Juden, ein Versprechen, für das Israel als eine Art unantastbarer Garant gesehen wird?«

In Kleins gewiss nicht neuen Fragen schwingt das Plädoyer für den Vergleich bereits mit. Man ist geneigt, ihr zu folgen. Die Alternative wäre, es mit der Autorin Mirna Funk zu halten. In der NZZ hatte Funk Glazer ausgerechnet dafür kritisiert, »dem absurden Bedürfnis (…), das Morden (der Nazis an den Juden, Anm.) im Nachhinein mit Sinn zu füllen und aus diesem eine Lehre abzuleiten«, nachgegeben zu haben. Denkt man das bizarre Argument konsequent fort, man endete dort, wo jedes »Nie wieder« endgültig obsolet geworden wäre.

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