Tief gespalten

von Niklas Franzen

Illustration: Ūla Šveikauskaitė

Luiz Inácio Lula da Silva wird trotz seines Wahlsiegs gezwungen sein, breite Koalitionen zu bilden, um in Brasilien Mehrheiten für seine Reformvorhaben zu finden.


1052 wörter
~5 minuten

Aus Brasilien kamen in den letzten Jahren wahrlich nicht viele gute Nachrichten. Ende Oktober gab es aus dem größten Land Lateinamerikas endlich wieder einmal etwas Positives zu vermelden: Der Sozialdemokrat Luiz Inácio Lula da Silva gewann die Stichwahl um die Präsidentschaft gegen den rechtsradikalen Amtsinhaber Jair Bolsonaro und wird somit ab 1. Jänner 2023 regieren. Hunderttausende feierten im ganzen Land die Wahl Lulas, der bereits zwischen 2003 und 2011 Präsident von Brasilien war.

Die Erleichterung ist auch deshalb groß, weil Bolsonaros Amtszeit in jeder Hinsicht eine Katastrophe gewesen ist. Sein schulterzuckender Umgang mit der Pandemie bescherte dem Land die weltweit vierthöchste Covid-19-Todesrate; wegen seiner Kahlschlagpolitik im Regenwald galt Brasilien international schnell als Paria; die Verarmung nahm im ganzen Land zu; Korruptionsskandale kratzten an Bolsonaros Saubermann-Image. Der baldige Ex-Präsident ist heute für viele die Hassfigur schlechthin: Wenn er im Fernsehen spricht, klopfen Menschen aus Protest auf Kochtöpfe. Der Rechtsradikale hat alte Wunden aufgerissen – und neue hinzugefügt. Er hat maßgeblich zur Verrohung der politischen Kommunikation beigetragen, und er hat eine Kultur des Hasses etabliert. Brasilien wird lange brauchen, um sich davon zu erholen.

Gerade deshalb ist es erschreckend, dass Bolsonaro an der Wahlurne nicht deutlicher abgestraft wurde. Zwar lag er am Ende hinter seinem Widersacher von der Arbeiterpartei PT, doch das Ergebnis war denkbar knapp. Lula kam auf 50,90 Prozent der Stimmen, Bolsonaro auf 49,10 – wesentlich mehr, als ihm die Meinungsforschungsinstitute vorausgesagt hatten. Die Wahl hat so vor allem eines bestätigt: Brasilien ist tief gespalten.

Unmittelbar nach der Wahl gingen die bolsonaristas im ganzen Land auf die Straße. Sie blockierten Autobahnen, zogen vor Militärgebäude, forderten ein Eingreifen der Streitkräfte. Viele von ihnen sind fest davon überzeugt, dass die Wahl »gestohlen« wurde. Wie in den USA hat sich in den Köpfen vieler brasilianischer Rechter der Verschwörungsmythos eines großen Betrugs eingebrannt. Das hängt auch mit dem von Bolsonaro gelenkten Diskurs zusammen.

Monatelang hatte er Lügen über das elektronische Wahlsystem verbreitet und wilde Gerüchte in die Welt gesetzt. Nach der Wahl brauchte er stolze 45 Stunden, um erstmals vor die Presse zu treten. In einer kurzen Rede bekannte sich Bolsonaro zwar zur Verfassung und ließ über seinen Stabschef verlauten, die Amtsübergabe werde eingeleitet. Er gratulierte aber weder Lula zum Wahlsieg, noch gestand er seine Niederlage ein. Und er sprach davon, dass die Straßenblockaden seiner Anhänger die Folge von »Wut und einem Gefühl von Ungerechtigkeit über den Wahlprozess« seien. Seine Fans fühlen sich bestätigt. Es gehört zum Wesenskern des Bolsonarismus, sich in einem Krieg gegen einen übermächtig scheinenden Gegner zu wähnen, in einem Kampf epischen Ausmaßes: eine tapfere Avantgarde gegen die Fake-News-Medien! Das Volk gegen das Establishment! Die Wahlergebnisse dürften diese Wagenburgmentalität bestätigt haben.

Fest steht: Der Bolsonarismus ist gekommen, um zu bleiben. Das zeigt sich auch daran, dass etliche Bolsonaro nahestehende Kandidaten und Kandidatinnen den Einzug in die Parlamente schafften. Seine Partei wird stärkste Kraft im Abgeordnetenhaus sein, auch in den Senat zogen viele prominente Rechte ein. Die drei größten Bundesstaaten – São Paulo, Minas Gerais und Rio de Janeiro – werden künftig von Gefolgsleuten Bolsonaros regiert. Das macht es nicht einfach für Lula. Er wird hart für Mehrheiten kämpfen müssen und gezwungen sein, breite Koalitionen zu bilden.

»Seine Politik ist auf Konsens und Dialog ausgerichtet. Lulismo nennt sich das in Brasilien. Doch kann das noch einmal funktionieren?«

Lula, der Politiker mit der unverkennbaren Kratzstimme, hat sich dennoch viel vorgenommen. Er wolle das Land wieder einen, den Hunger beseitigen und die Bekämpfung der Umweltstörung zu einer Priorität seiner künftigen Regierung machen. Wie genau er das machen will, verriet er im Wahlkampf aber kaum. Oft blieb er schwammig, sprach über die Vergangenheit, klang fast nostalgisch.

Während es in Chile und Kolumbien (siehe dazu auch den Beitrag von Tobias Lambert auf Seite 42) linken Kandidaten gelang, mit Massenprotesten im Rücken die Wahlen zu gewinnen, sah es in Brasilien anders aus. Lulas Wahlsieg ist nicht Ausdruck einer Stärke der Linken. Bis auf wenige Ausnahmen hat es in den letzten Jahren kaum größere Proteste gegeben, soziale Bewegungen mussten viele Abwehrkämpfe führen. Lulas Wahlerfolg ist vor allem mit seinem Charisma und Bolsonaros Katastrophenkurs zu erklären. Außerdem blicken viele Menschen sehnsüchtig auf die Amtszeiten des Ex-Gewerkschafters zurück. Ein Rohstoffboom erlaubte es damals, ambitionierte Sozialprogramme umzusetzen und die Armut massiv zu verringern. Als er nach zwei Amtszeiten nicht mehr zur Wahl antreten konnte, ging er mit einer rekordverdächtigen Zustimmungsrate von 87 Prozent. So ist es nicht verwunderlich, dass Lula heute das Gefühl von saudade, einer Sehnsucht nach besseren Zeiten, weckt. Allerdings: Für viele gilt Lula als Reinkarnation des Bösen, als Symbol für Korruption und Misswirtschaft. Er polarisiert, wie es wahrscheinlich sonst nur Bolsonaro tut.

Der alte Fuchs Lula ist sich der Kräfteverhältnisse im Land bewusst. Und so bewegte er sich im Wahlkampf politisch deutlich gen Mitte. Er schmiedete ein breites Bündnis und machte etwa den konservativen Ex-Gouverneur von São Paulo zum Vizepräsidentschaftskandidaten. In Interviews erklärte er, gegen Abtreibungen zu sein, und polemisierte gegen Unisex-Toiletten – ein klares Signal an die konservative evangelikale Wählerschaft. Andererseits bezog er soziale Bewegungen in Debatten ein, setzte thematisch auch linke Akzente.

Übersetzt bedeutet »Lula« Tintenfisch, und tatsächlich zeichnete sich Luiz Inácio Lula da Silvas Politik schon immer dadurch aus, die Tentakel in alle Richtungen auszustrecken. Am Vormittag ein besetztes Gebiet der Landlosenbewegung MST besuchen und mit Aktivistinnen plaudern, am Nachmittag ein Austausch mit Bankern bei exquisitem Kaffee – kein Widerspruch für Lula. Seine Politik ist auf Konsens und Dialog ausgerichtet. Lulismo nennt sich das in Brasilien. Doch kann das noch einmal funktionieren? Brasilien hat sich verändert, und die goldenen Zeiten sind vorbei.

Zumindest auf internationaler Bühne hat Lula die Möglichkeit, verlorengegangenes Vertrauen zurückzugewinnen. Noch am Wahlabend gratulierten ihm viele hochrangige Staatschefs zum Sieg. Lula ist sich Brasiliens Rolle in der Welt bewusst. So nahm er die Einladung zur Weltklimakonferenz COP 27 an und reiste zusammen mit der prominenten Umweltschützerin und Ex-Ministerin Marina Silva in das ägyptische Scharm El-Scheich. Es war ein Signal an die Welt: Es gibt ein Brasilien nach Bolsonaro. Und zwar ab jetzt.

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