Die Ankunft neoliberaler Politik in Lateinamerika wird meist mit der internationalen Schuldenkrise Anfang der 1980er-Jahre in Zusammenhang gebracht. Damals haben Internationaler Währungsfonds (IWF) und Weltbank den verschuldeten Ländern für den Erhalt weiterer Kredite rigide Strukturanpassungsmaßnahmen auferlegt. Der »Washington Consensus« beinhaltete das, was als Kern neoliberaler Politik gilt: strenge Sparpolitik und Liberalisierung. Zur weithin bekannten Genealogie des Neoliberalismus in Lateinamerika gehören auch die chilenischen Chicago Boys. Die in den USA ausgebildeten Wirtschaftswissenschafter erhielten im Gefolge des von der CIA gestützten Militärputsches in Chile ein Exerzierfeld für ihre Ideen. Diese Geschichtsschreibung ist unvollständig.
Der Neoliberalismus in Lateinamerika ist älter, und er kam nicht nur von außen. Bereits vor seiner späteren Durchsetzung spielten neoliberale Akteure in den wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Institutionen ihrer Länder eine Rolle – als Unternehmer, Bankiers, Intellektuelle, Zentralbanker und Verbandsfunktionäre. Außerhalb und innerhalb des Staates gingen sie ab den 1940er-Jahren mit Eifer daran, ihre Standpunkte in der Öffentlichkeit und in Unternehmerkreisen bekanntzumachen und in konkrete Politik zu übersetzen.
Auch die transnationalen Vernetzungsaktivitäten starteten bereits vor dem ersten Treffen der Mont Pèlerin Society (MPS) – die namensgebende Zusammenkunft namhafter Neoliberaler an jenem Höhenrücken nahe dem Genfer See im Jahr 1947 gilt gemeinhin als Beginn der neoliberalen Bewegung. Dort traf man sich freilich nicht nur, um Ideen auszutauschen. Vielmehr zielte man auf den Aufbau eines Netzwerks aus Organisationen und Vereinen, Einrichtungen zur Elitenbildung und Medien, um in den öffentlichen Diskurs zu intervenieren und so Politik zu beeinflussen. Lateinamerika war für die Bestrebungen dieser neoliberalen Internationale gegen New Deal, Keynesianismus und Sozialismus im Kontext des Kalten Krieges kein unbedeutender Kampfplatz.
Dort hieß die Gegnerin importsubstituierende Industrialisierung. Unter der Ägide eines aktiven Entwicklungsstaates hatten viele Länder im Gefolge der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre – zunächst zögerlich, allmählich konsequenter und von strukturalistischen Entwicklungsökonomen theoretisch fundiert – begonnen, eine auf den Binnenmarkt orientierte Entwicklungsstrategie einzuschlagen. Ziel war es, von Industrieimporten aus den Zentrumsländern unabhängiger zu werden und die einseitige Rohstoffabhängigkeit zu mindern. Verstaatlichungen und Sozialreformen flankierten den öffentlich gelenkten Aufbau einer industriellen Basis. Das rief Intellektuelle und Unternehmer auf den Plan, die sich rund um einen erneuerten Liberalismus formierten. Die österreichischen Ökonomen Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek lieferten dafür die ideologischen Leitplanken: die Ablehnung von Planung, Protektionismus, Umverteilung und staatlicher Intervention in die Wirtschaft.
Mises verkündete in seinem Seminar an der New York University, das er in Erinnerung an sein Wiener Privatseminar 1948 gegründet hatte, einen Liberalismus, der nicht als konservative Ideologie daherkam, sondern, so einer seiner Gefolgsleute, radikal, subversiv und authentisch war. Für ihn waren Sozialisten und Konservative gleichermaßen Feinde des Kapitalismus, schließlich wollten beide ungerechte Verteilung durch gerechtere ersetzen. Hayek wiederum gelang mit seinem Buch Der Weg zur Knechtschaft – 1944 erschienen und von Reader’s Digest in einer Kurzfassung über eine Million Mal verteilt – ein Bestseller. Das in allgemein verständlicher Sprache verfasste Manifest wartete mit einer einfachen und klaren Aussage auf: Planung und Regulierung der Wirtschaft führen unweigerlich in Knechtschaft, Totalitarismus und Elend.
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