Acht Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist der Holocaust wieder in aller Munde, wird die Erinnerung an die Vernichtung der Jüdinnen und Juden durch das NS-Regime und seine Kollaborateure immer wieder beschworen. Der Antisemitismus scheint wieder auf dem Vormarsch zu sein, der gut gemeinte, vielleicht sogar aufrichtige Schwur des »Nie wieder«, der zu einem festen Bestandteil der Nachkriegsethik geworden war, dagegen beiseitegeschoben und vergessen. Gewalt gegen Jüdinnen und Juden in Wort und Tat findet neue Anhänger. So jedenfalls verstehen die meisten Israelis und viele Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt den gegenwärtigen Moment. Ein Moment, in dem es legitim geworden ist, die Hamas nicht nur mit dem Islamischen Staat und Al-Qaida gleichzusetzen, sondern sie gleich als Nazis zu bezeichnen. Zugleich ein Moment, in dem propalästinensische Demonstrationen als antisemitisch denunziert werden; in dem jüdische und israelische Kritiker der Besatzungspolitik im Westjordanland und der Zerstörung Gazas als sich selbst hassende Juden bezeichnet oder sogar bezichtigt werden, im Dienst der Hamas zu stehen. Ein Moment schließlich auch, in dem ein Gegendiskurs entsteht, der den Zionismus als rassistische, koloniale Ideologie und Israel als nazistisch-genozidalen Staat sieht, als eine Entität, die von der Landkarte gelöscht werden müsse. Forderungen jüdischer Extremisten nach einem halachischen Staat vom Jordan bis zum Meer – einer religiösen Version des Ziels des säkularen Zionismus, über das gesamte historische Palästina zu herrschen – stehen Parolen propalästinensischer Demonstranten für ein Palästina vom Jordan bis zum Meer gegenüber, in denen das Programm der Hamas nachhallt, die Errichtung eines islamischen Palästinas in eben diesem Gebiet. Mit anderen Worten, wir haben es mit wechselseitigen Anschuldigungen zu tun, die genozidalen Absichten einer Seite scheinen jeweils die genozidalen Absichten der anderen Seite im Namen von Befreiung, Selbstbestimmung, Gerechtigkeit und Würde zu legitimieren.
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