In der süditalienischen Hafenstadt Formia ist der 24. Juni ein besonderer Tag. Jedes Jahr zieht an diesem Tag zur Mittagszeit ein Festzug an der Mole vorüber, angeführt von einem hölzernen Heiligen, umgeben von einem Strahlenkranz aus Draht. San Giovanni Battista ist in Blumen gebettet und schultert ein rotes Tuch, seine rechte Brust liegt frei. Der Schutzpatron hält ein Kreuz in seiner Linken, der Zeigefinger seiner Rechten weist der Prozession den Weg. Posaunen, Trommeln und Saxophone orchestrieren den Umzug mit Holzbüste an der Spitze, im Kleinformat ist sie in vielen Häusernischen präsent.
Am Ende des steinernen Dammes, der einen halben Kilometer ins Meer hineinragt, explodiert der erste Böller. Das Feuerwerk zu Ehren von Johannes dem Täufer hat eben erst begonnen. Aus den Düsen der Flugzeuge, die das Blau des Himmels durchkreuzen, strömen die Farben der italienischen Nationalflagge, sie hinterlassen drei unscharfe Streifen in der Luft. Die Bewohner der rund 134 Kilometer südöstlich von Rom gelegenen Küstenstadt begehen den Geburtstag ihres Heiligen mit der ihm im Italien der Gegenwart gebührenden Aufmerksamkeit. Am Ufer findet die mobile Statuette einen neuen Platz. Von dort aus soll sie die Netze der Fischer segnen und den Opfern des Meeres ewige Ruhe gewähren.
Am frühen Nachmittag dann reicht die Schlange vor dem weißen Häuschen mit dem Schriftzug »Laziomar« bereits bis zum Beginn der Mole. Die Wartenden weichen zur Seite, schaffen Platz für die sich in Auflösung befindliche Prozession. Der Ticketverkauf für eine der Fähren, die in den Sommermonaten mehrmals täglich in See stechen, war schon während der Veranstaltung in vollem Gange. In weniger als einer Stunde wird das Frachtschiff »Don Francesco« alle zahlenden Gäste zu einer Insel im Tyrrhenischen Meer bringen; sie zählt zur größten des pontinischen Archipels und ist an Wochenenden und Feiertagen ein beliebtes Urlaubsziel. In rund zweieinhalb Stunden Fahrtzeit erreicht das Transportschiff im Hafen von Formia das Ufer der Insel Ponza.
Spuren der Verbannung
Inseln haftet etwas Utopisches an: Fernab vom Festland, umgibt sie nichts als Wasser – ein Streifen Stein zwischen Möwen und Meer, der zu Fuß nicht zu erreichen ist. Wenn sich das Schiff vom Ufer abstößt, folgt ein Moment irritierender Grundlosigkeit: Das ruckartige Schwanken der Körper und Dinge an Bord erinnert daran, in einem fahrenden Stück Raum zu stecken. Danach bewegt sich der Boden unter den Füßen wie von allein. Der voluminöse Rumpf der »Don Francesco« bewahrt alles, was mit ihm reist, sicher in sich auf. Die bewegliche Rampe an der Hinterseite des Schiffes ist fest verschlossen, in horizontaler Lage hält sie selbst dem Gewicht von tonnenschweren Lastwägen stand, die Gas und Wasser in großen Mengen nach Ponza bringen. Am Unterdeck befinden sich auch einige Autos, am Asphaltrand neben den Parkplätzen zwei Container mit Ablageflächen für die Rollkoffer und Rucksäcke der Passagiere.
Erst seit gut einem halben Jahrhundert ist Ponza ein touristisches Paradies. Vor der hügeligen Erhebung tummeln sich Fischer- und Sportboote, pastellfarbene Häuser mit einladend großen Balkonen ragen aus dem Felsen hervor; daneben liegen die Inseln Zannone und Palmerola – schroffe, kaum bewohnte Formationen mit tiefen Einbuchtungen am Ufer, über Jahrhunderte hinweg vom Salzwasser geformt. Die pittoresken Bilder vom insularischen Utopia lassen den Traum vom »dolce far niente« nahezu perfekt erscheinen; sie verdecken jedoch eine tieferliegende Geschichte: Während des italienischen Faschismus war Ponza einer von mehreren Orten der Verbannung – eine Zelle ohne Mauern, begrenzt nur durch Himmel und See.
Bis zur Auflösung der Kolonie im Sommer 1939 diente die Insel als erzwungenes Exil für rund 200 Gefangene. Die meisten unter ihnen hatten zum Zeitpunkt der Ankunft einen ähnlichen Weg hinter sich: zuerst die Denunziation bei der Polizei, dann die nächtliche Verhaftung. Was folgte, waren Einzelhaft und Isolation in unterschiedlichen Gefängnissen Italiens. Die Untersuchungshaft für künftige Verbannte, die »confinati« genannt wurden, kannte keine Begrenzung, die Zeit des Wartens erschien ewig. Danach wurden die Gefangenen einem Sondergericht überstellt. Ein bloßer Verdacht reichte aus, um ins Exil geschickt zu werden, oft folgte die Verbannung auch ohne vorangegangenen Prozess.
Vier Jahre nach der Machtergreifung Mussolinis wurde mit dem Erlass des Gesetzes zum »Schutz des Staates« das Polizeiexil erneut eingeführt. Bereits im 19. Jahrhundert diente diese »Maßnahme« der »Neutralisation« politischer Gegner:innen, im faschistischen Italien war sie vor allem ein Repressionsinstrument gegenüber Kommunist:innen. Die Vorlage dafür lieferte das 1863 geschaffene Pica-Gesetz zur Bekämpfung sozialer Aufstände. Sozialist:innen, Anarchist:innen, Republikaner:innen und andere, die aufbegehrten, galten demnach als Gefahr für die öffentliche Ordnung. Es existierten Inquisitionsräte in ganz Italien, die Listen mit möglichen Verdächtigen führten, bestehend aus je einem Präfekten, einem Gerichtspräsidenten, einem Staatsanwalt und zwei Bürgern aus der Regionalverwaltung – eine perfide Struktur, die vom faschistischen Italien übernommen wurde.
Nach dem »Duce«-Attentat des 15-jährigen Anarchisten Anteo Zamboni am 31. Oktober 1926 in Bologna befand sich Italien im Ausnahmezustand. Artikel 180 des Einheitstextes über die öffentliche Sicherheit vom 6. November 1926 besagte, dass das Polizeiexil von einem Sondergericht jederzeit verhängt werden könne, von einem bis zu fünf Jahren dauere und mit der Arbeitsverpflichtung in einer Inselkolonie oder anderen Provinzen fernab der Wohnstätte des Verbannten verbüßt werden müsse. Das Polizeiexil konnte auch auf bereits abgesessene Strafen folgen, bei besonders unbeugsamen Gefangenen war dies fast immer der Fall: Nicht in Freiheit, sondern auf Schiffen fanden sich die »confinati« nach ihrer Haftentlassung wieder. Die Inseln Ponza, Ventotene, Lipari, Favignana, Lampedusa und Ustica sowie das Tremiti-Archipel zählten zu »confini« fernab des Festlandes, in hunderten Dörfern Mittel- und Süditaliens existierten weitere Verbannungszonen. Zwischen 1926 und 1943 waren in ganz Italien über 16.000 Menschen verbannt.
Bereits in den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts gab es auf Ponza eine Strafkolonie. Am 4. November 1911 kamen 140 Menschen aus dem Gebiet des heutigen Libyen an, in den folgenden Tagen wurden es insgesamt 683. Sie wurden noch während des Italienisch-Türkischen Krieges, den das Königreich Italien in kolonialer Absicht führte, auf die Insel gebracht. Regierungschef Giovanni Giolitti erteilte den Befehl, alle Aufständischen nach Tremiti, Ustica oder Favignana zu deportieren, die Erkrankten unter ihnen kamen in die Quarantänestation auf Ponza. Im Jahr 1912 starben 13 der libyschen Kriegsgefangenen an Atemwegserkrankungen, im Folgejahr ein weiterer. Der sozialistische Politiker Filippo Turati prangerte die schlechten Lebensbedingungen vor Ort bereits im Juni 1916 vor der italienischen Abgeordnetenkammer an. Er kritisierte, dass die Krankheitsrate unter den Deportierten hoch sei, täglich Todesfälle und zahlreiche Selbstmorde zu verzeichnen seien.
Um Platz für weitere »confinati« zu schaffen, ließ das Regime die libyschen Kriegsgefangenen auf Ponza im Dezember 1927 auf die Militärfestung Forte Ratti in Genua bringen. Fortan sollten auf der Insel politische Gefangene von »hohem Gefährlichkeitsgrad« konzentriert werden. Mit der Ankunft des Dampfers »Garibaldi« am 29. Juli 1928 aus Ustica galt die Strafkolonie offiziell als eröffnet. An Bord befanden sich 168 Verbannte, 60 Soldaten der faschistischen Milizia Volontaria per la Sicurezza Nazionale (Freiwillige Miliz für nationale Sicherheit, M.V.S.N.) und zwei Offiziere. Auf Ponza wollte das faschistische Regime den antifaschistischen Widerstand, seine Strukturen und Akteur:innen brechen. Auf der Insel lebten sie unter strengen Auflagen und ständiger Bewachung, parallel dazu verbreitete Mussolini den Mythos vom »Urlaubsort«: Der »Duce« würde seine Gegner keinesfalls vernichten, sie stattdessen nur auf Inseln von beneidenswerter Schönheit bringen.
Von 1937 bis 1943 befand sich auch der Unabhängigkeitskämpfer Ras Imerù auf Ponza, im Abessinienkrieg war er Befehlshaber der Truppen gegen die italienische Invasion in Äthiopien gewesen. Den 36 libyschen Gefangenen, die zwischen 1912 und 1918 im Krankenlager starben, ist am Cimitero Comunale ein pyramidenförmig angelegtes Monument gewidmet. Ihre Namen sind an der Vorderseite in arabischer Schrift eingraviert, der kleine Turm weist in Richtung Mekka. Vor dem Steilhang des Ufers öffnet sich ein weißes Tor zum Meer. Die Worte »Abitare l’Utopia« stehen am Sockel des Denkmals; eine Aufforderung, die Utopie zu bewohnen.
Spinellis Verhaftung
Am 29. Januar 1937 ergeht ein Schreiben der Königlichen Polizeidirektion in Rom an den lokalen Präfekten. Dabei handelte es sich um die Akte eines am 31. August 1907 in Rom geborenen Kaders der Kommunistischen Partei Italiens (Partito Comunista d’Italia, PCd’I): »Spinelli Altiero, Sohn von Carlo, Universitätsstudent, war seit 1921 einer der aktivsten jungen Kommunisten und übte stets bemerkenswerte Aktivitäten unter der Arbeiter- und Studentenjugend aus. Er stand in Verbindung mit den bekanntesten Kommunisten der Hauptstadt und war Leiter der Jugendorganisation des Viertels Trionfale. In der Nacht vom 5. auf den 6. Februar 1926, bei der Durchführung einer regierungsfeindlichen Demonstration, wurde von ihm eine rote Fahne mit der Aufschrift ›Nieder mit dem Faschismus – Es leben Brot und Freiheit‹ gehisst.«
Die Akte gewährt penibel Einblick in Spinellis Aktivitäten in den folgenden Jahren: So soll er bei klandestinen Versammlungen in der Lombardei immer wieder versucht haben, in der Arbeiterklasse für die antifaschistische Aktion zu mobilisieren. Im November 1926 folgt die erste polizeiliche Verurteilung: für die Dauer von fünf Jahren. Spinelli entzieht sich dem Zugriff der Behörden und taucht unter. Von da an trägt er den Tarnnamen »Ulisse« – in Anlehnung an Odysseus’ ewigen Kampf zwischen Skylla und Charybdis.
Am Morgen des 3. Juni 1927 wird er zusammen mit Giovanni Parodi, dem Sekretär der PCd’I-Sektion vor Ort, und Arturo Vigevani, einem für die PCd’I der Lombardei tätigen Kommunisten jüdischer Herkunft, erneut verhaftet. Zu diesem Zeitpunkt befindet er sich in einer Molkerei am Porta Venezia nahe der historischen Stadtmauer von Mailand. Drei Polizisten in Zivilkleidung verlangen nach Ausweisen und fordern die politischen Aktivisten anschließend dazu auf, ins Revier zu kommen. Die Dokumente mit fremden Namen hätten ihnen Schutz in der Illegalität bieten sollen, wurden aber erkannt. Während Arturo Vigevani von Wachen festgehalten wird, gelingt Altiero Spinelli und Giovanni Parodi kurzfristig die Flucht. Die Einwohner:innen des Viertels halten sie zuerst für gewöhnliche Diebe, einer bezeichnet die beiden jedoch als Bolschewiken. Die Menschenmenge versperrt ihnen daraufhin den Weg, heißt es dazu in der Akte.
Während der Untersuchungshaft verhören die Polizeibeamten Spinelli und seine Mitgefangenen jedes Mal mit anderen Absichten. Sie überstellen die Aktivisten in das Mailänder Gefängnis San Vittore und verhängen Einzelhaft über sie. Vor Ort ist Altiero Spinelli dennoch nicht allein, wie in seiner 1984 erschienenen Autobiografie Come ho tentato di diventare saggio nachzulesen ist. Über die Luke seiner Zelle erreicht ihn eine handschriftliche Notiz von Umberto Terracini, der ihn grüßt und zum Durchhalten ermutigt. Er zählt zu den Gründungsmitgliedern der PCd’I und ist schon seit über einem Jahr inhaftiert.
Spinelli wird erneut überstellt und verbringt eine Nacht im Gefängnis von Florenz. Danach sitzt er im sechsten Flügel des Regina-Coeli-Gefängnisses in Isolationshaft und stößt auch dort auf eine gut organisierte Gruppe von Kommunist:innen. Am 3. August 1927 folgt die Vernehmung vor einem Sondergericht, das sich erst am 19. März 1928 zu seinem Fall äußert. Wegen Bildung einer Organisation mit militärischem Charakter, Propaganda, Aufrufen zum Aufstand und dem Versuch, die Strukturen der seit 1926 illegalisierten Kommunistischen Partei Italiens wiederherzustellen, wird Altiero Spinelli am 25. August 1927 gemeinsam mit 62 weiteren Angeklagten verurteilt.
Nichts von dem, was ihm vorgeworfen wurde, hat Spinelli während des Prozesses bestritten – im Gegenteil: Er erklärte dem Richter, dass er sich der Illegalität seiner Aktionen bewusst gewesen sei und Zeugnis davon ablegen wolle – ein wenig aus revolutionärem Stolz, ein wenig aus Verachtung für die Illegalität des Gerichtsverfahrens. Zehn Jahre später erteilt die Provinzkommission von Rom den Befehl zur Polizeiverbannung für die Dauer von fünf Jahren. Im Februar 1937 befindet sich Altiero Spinelli in einer Zelle des berüchtigten neapolitanischen Gefängnisses Poggioreale.
Überlebenskampf
Die seit Sommer 1928 mehrmals pro Woche eintreffenden Gefangenentransporte überraschen die Bewohner:innen von Ponza schon lange nicht mehr – an die Anwesenheit der »confinati« haben sie sich gewöhnt. Die meisten unter ihnen stammen aus der Emilia-Romagna, dem Latium oder aus der Region Venezia-Giulia im Nordosten des Landes, viele gehören den ärmsten sozialen Schichten an. Vor ihrer Gefangenschaft verdienten sie ihren Lohn als Arbeiter, Bauern oder Maurer; mehr als die Hälfte hängt dem Kommunismus an.
Einige Inselbewohner:innen bemühen sich um guten Kontakt zu den Gefangenen und bauen dabei auf wechselseitiges Vertrauen. Sie beschaffen Informationen aus der Außenwelt, überbringen Briefe oder schleusen Korrespondenzen aus der Verbannungszone hinaus. Im Gegenzug erlernen sie von den »confinati« ein Handwerk – und mit ihm auch die kommunistische Idee. Andere sehen in den fremden Männern, Frauen und Kindern eine bedrohliche Konkurrenz. Besonders die Handwerker auf der Insel neiden es ihnen, mit Gelegenheitsarbeiten ein wenig Geld verdienen zu können, ohne Steuern zu zahlen – innerhalb eines durch Stacheldraht vom Rest der Insel strikt abgegrenzten Territoriums.
Die Kolonie der Verbannten endete an der Küste, im Westen durch den Tunnel von Giancos und die Via Chiaia di Luna begrenzt. An der Grenze stand alle zehn Meter ein Wachhäuschen mit Soldaten, auf Versuche, sie zu überschreiten, reagierten diese mit roher Gewalt. Die Gefangenen waren nicht selten Schlagstöcken und Tritten ausgesetzt, an sozialistischen Festtagen erwarteten sie spezielle Demütigungen. Wenn an einem dieser Tage jemand unabsichtlich auf das Bild des »Duce« oder des Königs trat, das den »confinati« vor die Füße gelegt wurde, schlugen die Schwarzhemden mit besonderer Härte zu; anschließend sperrten sie ihre Opfer tageweise in eine Zelle im Keller der Milizkaserne.
Wer eine Familie hatte, an Tuberkulose litt oder eine Frau war, musste nicht in den feuchten Gemäuern der Bourbonen-Kaserne in der Via Roma wohnen. Andere Unterkünfte für Gefangene gab es nahe dem Hafen, in Sant’Antonio, Canalone und Dragonara; einige der feuchten Löcher befanden sich auch zwischen der Via Roma und der Via Parata, unweit der Zisterne. In den Schlafsälen der Bourbonen-Kaserne bröckelte der Plafond, und das Wasser tropfte von den Wänden. Wegen der Zugluft nannten die Gefangenen diese Räume »Sibirien« und »Mandschurei« – ein Einschließungsmilieu mit rund 260 Gefangenen, seit 1932 erweitert um einen darüber liegenden Schlafsaal für rund 150 Personen. Ein hausnummerngroßes Schild in der Via Roma erinnert an die »cameroni dei confinati«, unweit davon eine Gedenktafel der Associazione Nazionale Perseguitati Politici Italiani Antifascisti (ANAPPI); hinter der Steinmauer liegen die Trümmer von Ruinen.
Trotz der nächtlichen Bewachung war an Ruhe im Schlafsaal nicht zu denken. Da die Polizei alle Gefangenen in betrunkenem Zustand sofort festnehmen ließ, mussten sich jene, die dem Alkohol zugetan waren, möglichst unauffällig zurück in die Kaserne schleichen. Die von oben verordnete Bettruhe nahm oft einen anderen Ausgang. »Die Geschickteren«, schrieb Altiero Spinelli in Come ho tentato di diventare saggio, »hatten gelernt, wenn die Knie nachgaben, langsam und steif zu gehen und still zu bleiben, bis sie im Schlafsaal wären, wo sie sich auf die Pritsche werfen, singen, schreien, rülpsen und nach Belieben in die sich um sie drehende Welt erbrechen konnten. Man hatte ihm (dem italienisch-schweizerischen Anarchisten Luigi Bertoni, Anm.) ganz besonders dazu geraten, auf die verfluchte Stufe am Eingang des Schlafsaals zu achten, die man überwinden musste, ohne zu sehr zu schwanken, unter den misstrauischen Augen der Soldaten und Polizisten, während diese den Appell durchführten.«
Bei seinen Sonntagspredigten rief Pfarrer Don Raffaele Tagliamonte immer wieder dazu auf, die Verbannten zu meiden wie die Pest. Trotz der Verleumdungen von der Kanzel aus hielten viele Ponzeser:innen die Neuankömmlinge auf der Insel nicht für Kriminelle. Sie wirkten wie ganz normale Menschen, die in einigen Fällen auch ihre Familien mitbrachten, die meisten lebten jedoch allein. Gegenüber der Kirche mit dem Altarbild vom eingeborenen Sohn, der mit geflügeltem Kreuz im Rücken zu Himmelfahrten in Höllenkreise anhebt, lagen ihre Elendsquartiere; die Hetzreden in der San Silverio e Santa Domitilla waren den »confinati« von nebenan nicht entgangen.
Eine »mazzetta« – ein Taschengeld – von fünf Lire pro Tag sollte das materielle Überleben der Gefangenen sichern, zuzüglich einer Zahlung für diejenigen, die Familien zu versorgen hatten. Viele »confinati«, die aus Apulien kamen, konnten davon jeden Monat rund hundert Lire nach Hause schicken, die Verbannten aus der Emilia-Romagna und jene, die aus bürgerlichen Familien stammten, waren einen höheren Lebensstandard gewöhnt. Um sich ihre »mazzetta« aufzubessern, erhielten sie finanzielle Hilfe von ihren Familien oder der in Italien auch während der Zeit des Faschismus aktiven Solidaritätsorganisation Rote Hilfe.
Nach der Ankunft bekam jeder Gefangene eine Aufenthaltskarte mit den Verpflichtungen und Verboten in der Kolonie. Anstelle von Ausweisen besaßen die »confinati« nur noch dieses »rote Heft«. Demnach war jede:r von ihnen dazu verpflichtet, zweimal pro Tag zum Appell zu erscheinen; von Mai bis August durfte die Unterkunft von 6 bis 21 Uhr verlassen werden, in den anderen Monaten von 7 bis 20 Uhr. Aus hygienischen Gründen mussten die Strafgefangenen in den Sommermonaten Meerbäder unter Aufsicht von Mussolinis Schwarzhemden nehmen, sie lebten in einem Gefängnis unter freiem Himmel und wurden beschattet. Bei besonderen Vergehen folgte ihnen tagelang ein Milizionär auf Schritt und Tritt im Abstand von maximal einem Meter.
Neben einer langen Liste an offiziellen Vorschriften gab es in der Kolonie auch ungeschriebene Regeln. Zur Strafe wurden Besuchsverbote verhängt oder Erkrankten spezielle Kost verweigert. Viele Briefe gingen nicht durch die Zensur, Nachrichten von Angehörigen und Genoss:innen wurden gezielt zurückgehalten. Der politische Gefangene Altiero Spinelli erstellte auf Ponza immer wieder Leselisten und verlangte nach Büchern; sie kamen niemals an.
Ankunft im Exil
Am Morgen des 12. März 1937 war Altiero Spinelli an Bord eines Schiffes gebracht worden, das von Neapel aus in See stach. Seine Ankunft auf Ponza beschrieb er in seiner Autobiografie wie folgt: »Von den Carabinieri an der Kette geführt, ging ich den Kai entlang und eine kurze, grob gepflasterte Treppe hinauf, die direkt zum Dorfplatz führte, während links und rechts die Dorfbewohner Spalier standen. (…) Es gab alte Mitkämpfer, die ich seit über zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte; es gab Gefährten aus dem Gefängnis, die vor mir entlassen worden waren. (…) Ich hörte meinen Namen von allen Seiten rufen, sah Mützen und Arme, die sich bewegten. Ich war leicht berauscht vom festlichen Empfang, der die Ankunft wie einen grotesken Triumph erscheinen ließ.«
Für Spinelli, den Kommunisten und späteren Mitbegründer der Bewegung für ein föderalistisches Europas, waren die Personen, die ihm vom Ufer aus zuwinkten, keine Unbekannten. Mit Umberto Terracini hatte er bereits im Gefängnis San Vittore Kontakt aufgenommen, beide sollten während der Verbannungszeit enge Vertraute werden. Terracini war mit Mauro Scoccimarro und zwanzig weiteren Kommunisten, darunter auch Antonio Gramsci, im Mai 1928 vor ein Sondergericht in Rom gestellt worden und befand sich schon seit mehreren Jahren auf Ponza. Gemeinsam mit Pietro Secchia, der vom Exil aus als Verbindungsglied zwischen der Komintern und der PCd’I fungierte, waren Terracini und Scoccimarro Mitglieder des Politbüros. In seiner marxistisch-leninistischen Dogmatik übertraf Secchia selbst Palmiro Togliatti, den Generalsekretär der in die Illegalität gedrängten Kommunistischen Partei Italiens; vom Moskauer Exil aus mahnte er Secchia immer wieder zur Mäßigung.
Auf Ponza traf Altiero Spinelli auf einen weiteren Mitgefangenen aus den eigenen Reihen: Giorgio Amendola, einer der italienischen Entsandten des EKKI (Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale). Er galt als linientreu und setzte die Beschlüsse der Komintern um. Bis zuletzt hatten viele Mitglieder des Politbüros der PCd’I für ein Festhalten an Übergangslösungen optiert, die jedoch nur im Fall von nichtrevolutionären Situationen gültig gewesen wären. Stalin hatte zu den Hochzeiten des europäischen Faschismus Gegenteiliges propagiert – und auch von der PCd’I Konformität gefordert. In den 1920er-Jahre war die Partei zunehmend in Abhängigkeit von Moskau geraten, das EKKI sorgte für sowjetische Kontrolle auf nationaler Ebene. Die von oben verordnete Politik der Bolschewisierung erstickte die innerparteiliche Willensbildung und machte die PCd’I zu einem gefügigen Werkzeug in fremden Händen.
Das von vielen italienischen Genoss:innen – darunter auch Camilla Ravera und Guido Ravazzoli – favorisierte Konzept der antifaschistischen Volksfront wurde zugunsten der Ausrichtung auf eine globale, proletarische Revolution suspendiert. Bereits in den 1920er-Jahren vertrat Grigori Sinowjew die »Sozialfaschismus«-These – was weitere Allianzen im Kampf gegen den Faschismus, vor allem mit Sozialist:innen und Anarchist:innen, unmöglich machte. Auch Altiero Spinelli wandte sich immer wieder gegen den von Moskau vorgegebenen Kurs – und geriet dadurch in offenen Konflikt mit Giorgio Amendola und Pietro Secchia. Letzterer hatte die Politbüro-Mitglieder Pietro Tresso, Deckname »Blasco«, Alfonso Leonetti (»Feroci«), Paolo Ravazzoli (»Santini«) und Teresa Recchia (»R. Teresa«) im französischen Exil des »rechten Opportunismus« bezichtigt und damit den Weg zu ihrem Ausschluss im Jahr 1930 geebnet; Amadeo Bordiga, der sich solidarisch mit Trotzki gezeigt hatte, wurde im selben Jahr von Togliatti (»Ercoli«) aus der Partei eliminiert. Angelo Tasca, der 1926 vorgeschlagen hatte, die PCd’I aufgrund akuter Repression vorübergehend aufzulösen und den Genoss:innen im Untergrund zum Rückzug in ihr Privatleben riet, kritisierte bis zuletzt ihre stalinistische Ausrichtung; im Jahr 1929 war auch er kein Parteimitglied mehr.
Neben der »mazzetta« gab es eine Mensa. Kommunisten, Sozialisten, Anarchisten und die Mitglieder der antifaschistischen Gruppe Giustizia e Libertà hatten auf Ponza jeweils ihre eigene. An gesonderten Tischen trafen sie sich zur Mittagszeit zum gemeinsamen Mahl. Sandro Pertini, Sozialist, Partisan und späterer Präsident Italiens, leitete die seine und grüßt bis heute vom Ufer aus – in Freiheit und mit hoch erhobenen Händen inmitten eines Mosaiks aus 35 Kacheln. Als Kommunist war Altiero Spinelli in die Mittagsrunde um Giorgio Amendola eingebunden. Mit ihm versammelte sich auch eine Handvoll Bauern aus der apulischen Stadt Terlizzi um den Tisch, die im Januar 1930 gemeinsam in Bari verhaftet worden waren. Die Kommunisten Gaetano Vallarelli, Michele Prisciandaro, Gioacchino Cioce und Corrado de Palma hatten vielen Gefangenen Entscheidendes voraus: Sie wussten, wie man karges Land kultiviert und mit bescheidenen Mitteln Essbares auf den Tisch bringt.
Mit ihrer Ankunft auf der Insel am 2. Juli 1939 stößt auch Camilla Ravera, vor ihrer Verhaftung im Mai 1930 Generalsekretärin der PCd’I, zur Mensa der Kommunisten. Ihre Arbeit setzt sie auf der Insel mit ungebrochener Zuversicht fort: Sie liest in jeder freien Minute und erstattet Ercoli regelmäßig Bericht. Ravera teilt sich mit der Kommunistin Maria Baroncini eine Unterkunft in der Chiaia di Luna. Nebenan lebt Umberto Terracini, mit dem sie, ohne ihn zu sehen, per Zuruf Neuigkeiten täglich austauscht; in unmittelbarer Nähe liegt auch das Zimmer von Sandro Pertini, der aus seiner Terrasse einen blühenden Garten gemacht hat und Camilla Ravera einige seiner Stecklinge schenkt. Auch sie beginnt damit, ihren Balkon zu begrünen, und erhält regelmäßig Besuch von einer kleinen Katze.
Es hätte ein Wiedersehen werden sollen – und doch endete alles in Streit und Verwerfungen. Altiero Spinellis Begegnungen auf Ponza hatten den Abstand zu einigen Gefährten vergrößert, darunter Pietro Secchia und Giorgio Amendola. Am Mittagstisch gab es oft Streit, die politischen Differenzen wurden zunehmend unüberbrückbar. Spinelli ordnet die Ereignisse im Spanischen Bürgerkrieg anders ein, als es die offizielle Linie nahelegt, und er sympathisiert mit den Anführern des anarcho-trotzkistischen Aufstands in Barcelona vom Mai 1937. Bis zuletzt zeigt er sich irritiert von der »Blindheit der Deutschen Kommunistischen Partei gegenüber dem Aufstieg Hitlers«. An einem Tag im Juli des Jahres 1937 erreicht ihn der Löffel der kommunistischen Mensa nicht mehr. Giorgio Amendola teilt ihm mit, dass er wegen »ideologischer Abweichung und kleinbürgerlicher Anmaßung« aus der Kommunistischen Partei Italiens ausgeschlossen ist.
Der zweite Teil dieser Serie befasst sich mit der Gefängnisinsel Ventutene und erscheint am 5. Dezember in unserer N° 1|25.
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