Ventotene ist ein knapp eineinhalb Quadratkilometer großer Landstrich, mitten im Tyrrhenischen Meer. Leicht hügelig und nahezu baumlos, können Winde frei über die Insel fegen. Im Herbst, manchmal schon im Sommer, erreichen die Böen des Schirokko mit bis zu 100 Kilometern pro Stunde das Ufer. Der heiße Wüstenwind kommt aus der Sahara, heißt in Spanien »Leveche«, im Golf von Lion »Marin« und in Marokko, Algerien und Tunesien »Chili«. Die Segler:innen wissen um seine Gefahren, rechts neben dem Wendeplatz für die Fähren befindet sich ihre Anlegestelle. Der neue Hafen von Ventotene liegt in einer asphaltierten Bucht und ist westwärts durch eine Mole begrenzt; die Felswand am Ufer des alten römischen Hafens, die man auf dem Weg zur Insel streift, wirkt hingegen wie die Fassade eines verfallenden Amphitheaters, das nach und nach im Meer versinkt. Das Gestein wölbt sich immer wieder nach innen, an den Einbuchtungen grillen Fischer ihren Fang. Es riecht nach Holzkohle, Zwiebeln, Rauch und Rosmarin.
Auf Ventotene eilt das Garen nicht. Die Zeit scheint langsamer zu verstreichen als auf dem Festland. Am neuen Hafen legt jeden Morgen ein Tankschiff an, das die Inselbewohner:innen mit Trinkwasser versorgt, auf der Piazza del Castello spielen die Jungen nachmittags Fußball und die Alten abends »scopa«, ein traditionelles neapolitanisches Kartenspiel. Dort, wo heute gespielt wird, befand sich seit den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts das Zentrum einer Zitadelle. Bis zur Befreiung der Insel im Dezember 1943 hatten die politischen Gefangenen, die Mussolini nach Ventotene deportieren ließ, dort ihre Schlafstätten. An der Stelle des Buchladens, dessen Besitzer ihre Geschichte gut kennt, lagen die Werkstätten der Verbannten, sie reichten bis zur heutigen Strada delle botteghe dei confinati. Nach Ventotene war man nicht gekommen, um dem Zirpen der Zikaden zuzuhören; für die meisten Gefangenen auf der Insel herrschte Arbeitspflicht.
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