Krieg und Befreiung

von Erich Hackl

Wiener Tagebuch, Nr.4, April 1975


584 wörter
~3 minuten

Die Linzer Arbeiterdichterin Henriette Haill meinte einmal, dass sie das Ende des Ersten Weltkrieges als Befreiung und Versprechen empfunden habe, »wie wenn der Himmel aufgegangen wäre«. Dieses Gefühl sollte sich 1945 nicht mehr einstellen: »Der Krieg war ganz anders, furchtbarer, viel größere Wunden hat er geschlagen, alles zertrümmert. Die Jugend war in einer ganz anderen Lage. Zum Teil war sie durch den Krieg belastet, nicht nur weil sie dabei waren, sondern ein Teil war ja politisch belastet, sie waren bei der Hitlerjugend.« Dazu kam der Tod so vieler Genossen, Genossinnen der Autorin; gerade aus Linz waren viele von ihnen noch in den letzten Tagen des Nazi-Regimes in Mauthausen ermordet worden.

Auch Haills prominenter Parteifreund Ernst Fischer verwies in einem Aufsatz, der im Jänner 1946 in der ersten Nachkriegsnummer von Weg und Ziel, dem Theorieorgan der KPÖ, erschien und im Wiener Tagebuch vom April 1975 auszugsweise wiederveröffentlicht wurde, auf den tiefen Unterschied zwischen den revolutionären Ereignissen von 1918/19, nach Ende des Ersten Weltkrieges, und der als Niederlage begriffenen Befreiung 1945. Was Haill intuitiv erfasst hat, dass »das Antlitz der Freiheit die harten Züge des Krieges« trug, analysiert Fischer in einer nüchternen und doch von verhaltener Leidenschaft vibrierenden Sprache.

Ernst Fischer

April 1945

Österreich wurde von außen befreit, im Osten durch die Rote Armee, die nur in schwersten, blutigsten Kämpfen die Hitler-Truppen hinwegfegte, im Westen und Süden durch die Amerikaner, Engländer und Franzosen, die mehr oder minder kampflos einmarschierten. Dadurch wurde die gesamte Entwicklung entscheidend beeinflußt: die Freiheit kam im Gefolge des Krieges, der über das östliche Österreich hinwegschritt und seine tiefen Spuren hinterließ. Diese Verkettung von Krieg und Befreiung wurde für die Massen des Volkes zum zwiespältigen Erlebnis: aus den Luftschutzkellern hervorkriechend, sahen die Menschen im Antlitz der Freiheit die harten Züge des Krieges. Im Jahre 1918 waren die eigenen Soldaten, heimkehrend von weit entfernten Fronten, die Waffenträger der Freiheit. Diesmal waren es fremde Soldaten, und die Front ging mitten durch das eigene Land. Hätten nennenswerte Teile des österreichischen Volkes wenigstens in letzter Stunde aktiv am Freiheitskampf gegen die Hitler-Armee teilgenommen, hätten sie Schulter an Schulter mit den Soldaten der Befreiungsarmee gegen die Deutschen gefochten, dann wäre manches leichter gewesen, dann hätten sich Krieg und Freiheit im eigenen Freiheitskrieg widerspruchslos miteinander verbunden; so aber entsprach die Befreiung in ihren unmittelbaren Folgen nicht den Erwartungen jener, die nicht wußten oder nicht wissen wollten, mit welcher Härte die Deutschen jahrelang diesen Krieg geführt, welchen gerechten Haß sie heraufbeschworen hatten. Und noch im letzten Augenblick hatten die Nazitruppen versucht, Österreich zur Wüste zu machen und der Vernichtung preiszugeben: gesprengte Brücken, Bahnhöfe und Betriebe, angezündete Häuser und Magazine, in Brand geschossene Kirchen und Kulturstätten, niedergemetzelte Gefangene, das war ihr letzter Gruß an Österreich. Das Antlitz blutüberströmt und rauchgeschwärzt, mit aufgepflanztem Bajonett durch explodierende Gebäude, durch brennende Straßen, über Trümmer und Leichen vorwärtsstürmend, so kam die Freiheit nach Österreich. Wie sollte sie da einem Engel gleichen, der Gaben und Gnaden austeilt? Österreich wurde ein befreites und zugleich ein besetztes Land. Wenn wir uns noch einmal vergegenwärtigen, daß die aktivsten gesellschaftlichen Kräfte, Arbeiterklasse und heimkehrende Soldaten, entweder atomisiert oder nicht vorhanden waren, daß Österreich keinen wesentlichen Beitrag zu seiner Befreiung leistete, daß fremde kämpfende Armeen das Land befreiten und besetzten, verstehen wir, daß die Initiative des Volkes sich nur stockend, nur in unzureichendem Maße entfaltete.
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