Gredlers krause These

von Erich Hackl

Tagebuch, Nr. 6, Juni 1962


555 wörter
~3 minuten

Leopold Grünwald (1901–1992) war einer der stillsten und zugleich kompetentesten Publizisten Österreichs, dessen Leben für mehrere Biografien gereicht hätte: Aktivist der linksradikalen Schülerbewegung, Mitbegründer der KPÖ wie der KPČ, Journalist in Prag und Paris, Komintern-Mitarbeiter, Leiter des Sudetendeutschen Freiheitssenders in Ufa und Moskau, Redakteur der Volksstimme und Korrespondent der chinesischen Nachrichtenagentur Hsinhua. Infolge der »Normalisierung« nach der Niederschlagung des Prager Frühlings trennte er sich 1971 von der KPÖ. Neben seiner Mitarbeit am Tagebuch, dann am Wiener Tagebuch veröffentlichte Grünwald drei Bände über den sudetendeutschen Widerstand gegen die Naziherrschaft und erbrachte dabei den Nachweis, dass das sudetendeutsche Exil, gemessen an der Gesamtbevölkerung, das größte in Europa war.

Im Juni 1962 setzte er sich mit der von Willfried Gredler (1916–1994) in der Tageszeitung Die Presse geäußerten Behauptung auseinander, dass die Deutschnationalen – also Großdeutsche und Landbündler – vor 1938 versucht hätten, die Demokratie zu verteidigen. Gredler, der 1980 für das Amt des Bundespräsidenten kandidieren sollte, war ab November 1936 illegales, ab Mai 1938 legales Mitglied der NSDAP und Beamter in der Abteilung für Deutschtumsfragen im Auswärtigen Amt gewesen, ehe er nach 1945 Nationalratsabgeordneter und Klubobmann der FPÖ sowie Botschafter Österreichs in Straßburg (beim Europarat), Bonn und Peking wurde.

Leopold Grünwald

Die Deutschnationalen

[...] 1866 war Österreich aus dem »Deutschen Bund« ausgeschieden, 1871 wurde das Deutsche Reich unter der Dynastie der Hohenzollern gegründet. Mit der endgültigen Lostrennung setzte eine eigene, von der Entwicklung der deutschen Nation grundverschiedene Entwicklung der Österreicher ein. Dieser Entwicklung widersetzte sich die deutschnationale Bewegung, die mit der Proklamierung der Einheit Deutschlands unter Preußens Führung als »Pfahl im Fleisch Österreichs« gegründet wurde.1 Sie forderte Bündnis und Zollunion mit der, später Anschluß an die damals nach dem Zarismus reaktionärste Monarchie Europas – an das Deutschland der preußischen Militaristen und der Sozialistenverfolgungen.
Allein diese Tatsache widerlegt das Märchen von der deutschnationalen Bewegung als Erbin der fortschrittlichen Tradition von 1848. Hier ist vielmehr ein eklatanter Bruch: die Deutschnationalen von 1870 bis 1890 haben die von den 48er Revolutionären unter den schwarz-rot-goldenen Fahnen verfochtene Forderung nach einer demokratischen deutschen Einheitsrepublik und Absetzung aller Fürsten preisgegeben. Gegen diesen Verrat haben die Kämpfer von 1848 leidenschaftlich protestiert. Hans Kudlich, der österreichische Bauernbefreier und Studentenführer, dem man nicht wenige Denkmäler als »deutschem Vorkämpfer« gesetzt hat, brandmarkte die deutschnationale Bewegung als stockreaktionär; insbesondere verurteilte er ihren Antisemitismus als barbarisch.2 Die ihm von der deutschnationalen Stadtverwaltung Wiens angebotene Ehrenbürgerschaft wies er demonstrativ zurück. Und der bekannte Dichter der Wiener Revolution, Moritz Hartmann, beantwortete das deutschnationale »Sieg Heil!«–Geschrei für den Hohenzollernkrieg gegen Frankreich (1870/71) mit der Warnung:

»Die kindische Sehnsucht vom Kyffhäuser
Wird endlich dem Volke der Träumer gestillt,
In hundert Schlachten wird für den Kaiser
Das Volk der Denker zum Morden gedrillt.
Sag an, mein Nachbar, und laß das Schwärmen:
Klang Dir aus dem begeisterten Chor,
Den Siegeskunden, dem tobenden Lärmen
Schon einmal das Wörtchen FREIHEIT ans Ohr?«

Auf die Demokraten von 1848 können sich also die Deutschnationalen gewiß nicht berufen!



1 Der erste »Verein der Deutschnationalen« wurde 1870, nach Ausbruch des deutsch-französischen Krieges in Graz gegründet.

2 Vergleiche H. Krommer, Hans Kudlich, politisches Testament, London 1944, eine Sammlung von Originalbriefen Kudlichs aus den USA mit einer vernichtenden Kritik an dem undemokratischen Charakter der Deutschnationalen in Österreich.
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