Chaos, Anarchie und Heldenmut

von Norma Schneider

644 wörter
~3 minuten
Chaos, Anarchie und Heldenmut
Tamara Duda
Donezk Girl
Aus dem Ukrainischen von Annegret Becker, Lukas Joura, Alexander Kratochvil; Edition Europastraße, 2025, 368 Seiten
EUR 22,50 (AT), EUR 24,00 (DE), CHF 33,50 (CH)

Bei ihr kaufen alle, die es sich leisten können: Pfarrer Buntglasfenster für ihre Kirchen und reiche Kriminelle ausgefallene Glasdekorationen für ihre Villen. Sie nennt sich selbst Elfe, aber zart und zerbrechlich ist sie nicht, die junge Frau, die sich in Donezk ihre eigene Glaswerkstatt aufgebaut hat. Sie ist erfolgreich und unabhängig. Als sich im Frühjahr 2014 mit einem Mal alles ändert, als Verwaltungsgebäude gestürmt und die ukrainischen Flaggen heruntergerissen werden, muss sie eine Entscheidung treffen. Während viele die Stadt verlassen, in die Westukraine fliehen, und andere sich den Separatisten anschließen, will sie sich wehren. Anfangs organisiert sie Kundgebungen, doch als die immer brutaler angegriffen werden, wird sie »eine Aufständische, eine Späherin und Saboteurin«.

Donezk Girl heißt der Debütroman von Tamara Duda, der bereits 2019 in der Ukraine erschien und jetzt in deutscher Übersetzung von Lukas Joura, Annegret Becker und Alexander Kratochvil vorliegt. Duda war selbst zu Beginn des Krieges als Freiwillige im Donbass und weiß, wovon sie erzählt.

Ihre sympathische Ich-Erzählerin nimmt kein Blatt vor den Mund und beschreibt pointiert die Absurditäten ihres Alltags im Donbass zwischen Kohlestaub und Korruption – und später dann, was Besatzung, Gewalt und Krieg aus diesem Alltag machen. Für manche scheint sich gar nicht so viel zu ändern, das Leben geht weiter, obwohl gerade Russland die Stadt besetzt. Dieses seltsame Nebeneinander von Normalität und Ausnahmezustand bleibt auch bestehen, als der Krieg näher rückt: In manchen Vierteln gibt es keinen Strom mehr, Busse und Taxis fahren nicht mehr, Häuser sind zerbombt – und in anderen Teilen der Stadt sind die Cafés und Geschäfte geöffnet, man hält sich fest an Gewohnheiten, versucht, auszublenden, was geschieht: »Du gewöhnst dich daran, mit gesenktem Kopf zu gehen oder den Asphalt unter den Füßen zu betrachten. Oder genau andersherum, du gehst mit hocherhobenem Kinn und schaust zu den Dächern. Denn in der Mitte zwischen Himmel und Erde bleibt dein Blick sonst die ganze Zeit an Maschinengewehren hängen.«

Manchmal hat sie das Gefühl, verrückt zu werden – oder dass alle anderen verrückt geworden sind. Etwa wenn die Nachbar:innen die Propagandalügen aus dem russischen Fernsehen nachplappern und selbst Freund:innen sich den Separatisten anschließen. Gleichzeitig spürt die selbsternannte Elfe tatsächlich eine Art Leichtigkeit, die merkwürdige »Freiheit der Verdammten«, wie sie es nennt: An Geldverdienen, Renovierungen oder die Rente muss man jetzt nicht mehr denken.

Stattdessen hilft sie, wo sie kann: Sie koordiniert Freiwillige, berichtet online über die Situation vor Ort, hilft dabei, Zivilist:innen in Sicherheit zu bringen, und besorgt mithilfe von Spendenkampagnen und fragwürdigen Ebay-Händlern Lebensmittel und Ausrüstung für die ukrainischen Soldat:innen, denn denen fehlt es an allem: »Militärstiefel, Knieschützer, Westen, Kampfgurte, Helme, Schutzbrillen, Tourniquets, Verbandszeug – es gab Hunderte Dinge, von denen in unserer Armee noch niemand was gehört hatte.«

Die Schilderungen, die auf wahren Begebenheiten beruhen, geben einen Eindruck davon, wie wichtig Selbstorganisation, Solidarität und die Hilfe von Freiwilligen für die Verteidigung sind. Die erste Phase des Krieges könnte man, so die Erzählerin, »Chaos, Anarchie und Heldenmut« nennen.

Was sie tut, ist gefährlich: Die Erzählerin gerät vielfach in brenzlige Situationen, wird fast von russischen Soldaten gefangen genommen und überlebt einen Beschuss nur knapp. Viel zu oft wird sie Zeugin von Tod, Gewalt und Zerstörung. Manchmal sind die Schilderungen schwer zu ertragen, doch sie sind nicht fehl am Platz, sondern vermitteln die Grausamkeit des Krieges – und warum man trotzdem weiterkämpft, auch wenn es aussichtslos scheint.

Wer besser verstehen will, was der Donbass ist und was dort seit 2014 geschieht, sollte dieses Buch lesen. Nach der Lektüre kann man sich ein wenig besser vorstellen, wie das Leben in den von Russland besetzten Gebieten der Ukraine aussieht.

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