Nicht erst seit George Orwells stilbildender Dystopie 1984 steht Frieden oft für Krieg. Die Benennung eines Phänomens durch das Zeichen seines Gegenteils hat Tradition, »Neusprech« als Satire auf die stalinistische Propaganda machte diese nur besonders augenscheinlich. So ist das Ministerium für Frieden, kurz Minipax, zuständig für Kriegsführung, und die dazugehörige Parole lautet: »Krieg ist Frieden.« Die bewusstseinsverändernde Fähigkeit der Menschen, die Gleichsetzung von Antonymen als Normalität zu akzeptieren, nannte Orwell treffend »Doppeldenk«.
Orwell versuchte in den 1940er-Jahren, romantisierende Vorstellungen westlicher Linker von Stalins Sowjetunion zu entzaubern und vor der Erosion kritischen Denkens und demokratischer Öffentlichkeit zu warnen. Sein Werk war ein Mahnruf gegen den Totalitarismus und dessen Bestreben, das Denken und Fühlen der Menschen zu manipulieren, wofür freilich systematische Gewalt nach innen unerlässlich war. Erschreckenderweise lässt sich diese Erscheinung heute auch in der (formal-)demokratischen Welt beobachten.
Unter den militärischen Konflikten, die dieser Tage die Medien und die zunehmend fragmentierten Debatten in Europa und den USA dominieren, seien zwei als Beispiel genannt: der andauernde Krieg in der Ukraine und die US-Beteiligung am israelisch-iranischen Schlagabtausch im Juni dieses Jahres. Beide Konflikte haben komplexe Vorgeschichten, und naheliegenderweise werden die jeweiligen Kausalitätsketten von den beteiligten Parteien unterschiedlich dargestellt. Verblüffend aber ist – oder sollte jedenfalls sein – die Übernahme von offensichtlich wirklichkeitswidrigen Regierungsslogans von Medien quer durch die Qualitäts- und Gesinnungsspektren.
Wladimir Putin hat seinen Angriff auf die Ukraine nicht nur als präemptive Aktion gegen eine Bedrohung Russlands durch die Nato begründet, was immerhin eine plausible außenpolitische Logik hat, wenn es auch keine Rechtfertigung für den brutalen Krieg ist. Doch Putin verbindet auch antisemitische Propaganda gegen Wolodymyr Selenskyj mit der behaupteten Notwendigkeit, die Ukraine von einem Krypto-Nazi-Regime zu befreien. Ein Angriffskrieg zur Wiederherstellung eines Imperiums, dessen größte territoriale Ausdehnung nicht zuletzt durch den Hitler-Stalin-Pakt erreicht worden war, wird als antifaschistischer Verteidigungskrieg dargestellt. Die kunstvolle Doppelsprech-Strategie daran: Beide Kampfrufe haben mächtige Echoräume im russischen Geschichtsbewusstsein – und in westeuropäischen Teilöffentlichkeiten.
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