Im Jahr 1947 kommen in Jugoslawien internationale Jugendbrigaden zusammen, um Eisenbahnschienen zu verlegen. Sie sind aus Italien, Großbritannien, Griechenland, Frankreich, dem Mandatsgebiet Palästina, Dänemark und Schweden angereist; ihr Projekt lautet, den Aufbau des Landes durch die Errichtung zentraler Infrastrukturprojekte zu unterstützen. Sie bauen, gemeinsam mit hunderttausenden jugoslawischen Brigadist:innen, Autobahnen, Brücken, Tunnel, Fabriken, Wohnhäuser, Schulen, Spitäler, Parks – und eben Eisenbahnlinien.
Die slowenische Künstlerin Nika Autor fand vor einigen Jahren auf einem Flohmarkt ein Fotoalbum, in dem eine junge Frau die Aktivität ihrer Jugendbrigade beim Linienbau vom Šamac nach Sarajevo festgehalten hatte. Die Künstlerin nahm die Fotos zum Anlass, den Kurzfilm Sunny Railways zu drehen. In ihm bringt sie die Schwarz-Weiß-Aufnahmen an die Orte ihres Entstehens zurück und überlagert die gegenwärtigen Landschaften mit den verblichenen Bildern, auf denen die jungen Erwachsenen bei der Arbeit zu sehen sind. In sieben Monaten und so gut wie ohne maschinelle Unterstützung errichteten sie die Schienen, Brücken, Tunnel und Stationen der über 200 Kilometer langen Strecke. Der Text eines Arbeitslieds, den sie dabei sangen, geht so: »Das Unmögliche – das ist unser Ziel.«
Heute, sagt die Künstlerin im Voiceover des Films, nimmt sich der Blick in diese Vergangenheit nicht wie eine nostalgische Erinnerung, sondern vielmehr wie Science-Fiction aus: Sowohl die gelebte internationale Solidarität, die die internationalen Jugendbrigaden demonstrierten, als auch das Projekt des kollektiven Baus an einer radikal anderen Zukunft wirken aus gegenwärtiger Sicht geradezu undenkbar.
In diese Sichtweise unserer katastrophen- und despotengebeutelten Gegenwart greift die Titelstory dieser Ausgabe von Benjamin Opratko und Astrid Schöggl ein: In ihr erscheint nicht das Schienenverlegen, sondern die Eisenbahn selbst als Hoffnungsträgerin einer radikal anderen Zukunft.
Welch hehre Fortschrittsvorstellungen auch ästhetisch mit dem durch die Landschaft schießenden Projektil unterwegs waren, zeigt Jana Volkmanns essayistische Hochgeschwindigkeitsfahrt durch die Geschichte der Eisenbahn in der Literatur. Sie macht auch die ernüchternde Einsicht greifbar, dass Bahnfahren in der Literatur wie so vieles in unserer Gegenwart mittlerweile weniger als aufregende Bewegung durch die Welt denn als notwendiger Zwischenhalt am pragmatischen Trip von A nach B gilt. Einen ebensolchen Trip hat Karsten Krampitz für uns unternommen, in Form einer Fahrt von Klagenfurt nach Berlin, also einmal durch den deutschsprachigen Raum, seine Bahngesellschaften und deren Spleens. Auch Krampitz diagnostiziert einen Wandel: Wo Walter Benjamin noch im Griff nach der Notbremse die Möglichkeit revolutionären Handelns sah, ist bei Krampitz der unplanmäßige Aufenthalt nichts als Anlass zum Umstieg in den Schienenersatzverkehr. Der aber, und das ist ein überraschend optimistischer geschichtsphilosophischer Twist, erscheint dabei als inspirierender als die Zugfahrt selbst: »Das Beste an der Bahnfahrt war der Bus.«
Die Gleise der Strecke Šamac–Sarajevo liegen mittlerweile brach. Während des Jugoslawienkriegs in den Neunzigern wurden sie von Bomben teilweise zerstört, dann prekär repariert; 2011 fuhr auf ihnen schließlich der letzte Zug. Metaphorisch stehen sie für die überwachsene Hoffnung auf eine sozialistische Zukunft; praktisch werden die Schneisen, die die Gleise in die Landschaft geschlagen haben, gegenwärtig von Menschen als Fußwege genutzt, die ins Zentrum Europas zu gelangen suchen. Auch Valeria Hänsel und Kerem Schamberger berichten in ihrer Reportage von der Bewegung einer Flucht, nämlich jener über die belarussisch-polnische Grenze. Mithilfe einer Fotografin und Fluchthelferin dokumentieren sie die Gewalt, der Menschen an der Grenze ausgesetzt werden, aber auch die individuellen Akte der Solidarität, der Hilfe und der Unterstützung.
In diesem Streckenabschnitt zwischen ruinierten Zukünften, die einst selbstverständlich gegenwärtig schienen, und Momenten des punktuellen Antretens gegen ebendiese zugrunderichtenden Kräfte, fährt die aktuelle Ausgabe des TAGEBUCH. Nachdem meine Kolleg:innen Benjamin Opratko und Jana Volkmann mich in vorangehenden Editorials bereits so herzlich willkommen geheißen haben, freue ich mich nun über die Gelegenheit, meine erste eigene Lautsprecherdurchsage zu machen. Ich bin froh, an Bord zu sein, und wünsche uns allen eine gute Weiterfahrt, reich an Auseinandersetzungen lieber über Inhaltliches als über die Sprechlautstärke im Ruheabteil. Das Bordrestaurant bleibt aufgrund eines technischen Defekts leider geschlossen.
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