Wildes Denken reloaded

von Florian Mühlfried

502 wörter
~3 minuten
Wildes Denken reloaded
Erhard Schüttpelz
Medium, Medium
Matthes & Seitz, 2025, 511 Seiten
EUR 39,10 (AT), EUR 38,00 (DE), CHF 49,90 (CH)

Medienrevolutionen hat es nie gegeben, behauptet der Medienwissenschafter Erhard Schüttpelz. Denn bevor etwa der Buchdruck das Leben der Menschen auf den Kopf gestellt hat, mussten sich die politischen und ökonomischen Bedingungen verändern. Die politische Ökonomie ist der Medienmacht vorgelagert, so die materialistische Intervention. Und dann die anarchistische Volte: Vielleicht hat es doch eine Medienrevolution gegeben, und zwar ganz am Anfang der Menschheitsgeschichte, als der Mensch sich selbst zum Medium machte.

Als Medium kommunizierte er mit seinesgleichen und mit seiner als belebt gedacht und erfahrenen Umwelt. Er tat dies mittels Körperbemalungen, Masken, Tattoos und in Form von Ritualen. Schüttpelz rückt hier die Körpertechniken in den Vordergrund, ein von dem französischen Vordenker Marcel Mauss propagiertes und in der vergleichenden Sozialforschung nie vollständig ausbuchstabiertes Konzept. Anstatt Körper als natürlich zu betrachten, rückt der Blick auf Körpertechniken dessen Gemachtheit in den Vordergrund. So erscheint jede Alltagshandlungen wie Gehen oder Essen als eine Arbeit an und für sich.

In dieser ursprünglichen Form von Medialität war der Mensch sein eigenes Medium und damit gewissermaßen ganz bei sich. Erst ab dem 19. Jahrhundert setzte sich ein Verständnis von Medien als externalisiert durch. Menschlich verkörperte Medialität wurde der Lächerlichkeit ausgesetzt, ausgegrenzt und Spiritisten, Primitiven und Verrückten zugeschrieben. Schüttpelz hingegeben sieht in der Doppeldeutigkeit des Begriffes sein Potenzial: Medium Medium. Medien sind Menschen und zugleich die Geister, die er rief und die sich in Dingen manifestierten, die wir heute umgangssprachlich als Medien bezeichnen. Der Begriff bezeichnet also sowohl den sich entäußernden Menschen als auch das, was ihm über den Kopf gewachsen ist.

Ähnlich wie Anfänge von David Graeber und David Wengrow ist das Buch Medium, Medium ein wilder Ritt durch die Menschheitsgeschichte und Weltregionen. Dieser Ritt führt zu Schamanen und Wildbeutern und von Grönland über den Amazonas nach Australien. Wegbegleiter sind neben dem genannten Marcel Mauss immer wieder Claude Lévi-Strauss, Victor Turner, Arnold van Gennep und Émile Durkheim. Manchmal vergaloppiert sich Schüttpelz auch, etwa wenn er Wildbeutern grosso modo und trotz zugestandener Heterogenität der Quellenlage eine einheitliche Kosmologie und Wertehierarchie zuschreibt. Aber immer wieder produziert dieses atemlose Ausschweifen überraschende und erstaunlich konkrete Einsichten in alltägliche Gegenstände und Phänomene – etwa über Waschlappen (Medium der Säuberung, Inbegriff des Schmutzes), das Schnippeln von Gemüse (Externalisierung von Wissen) oder Fahrradkuriere (menschliche Motoren).

Schüttpelz’ Buch ist bahnbrechend, weil es die Medienwissenschaft aus der selbstgewählten Gefangenschaft in einem Käfig der technischen Apparaturen befreit. Aber auch weil es dem »Wilden Denken« wieder Platz verschafft. Dieser Begriff wurde von Lévi-Strauss eingeführt, um das Denken nicht-westlicher, scheinbar naturnaher Kulturen zu kategorisieren. Später stand er für den Versuch, ins Freie zu denken – ungestüm und unbekümmert von Relevanzbehauptungen und Begriffsdiktaten, Ambivalenzen zulassend. Der universitäre Raum ist für solche Projekte im Zuge der Neoliberalisierung fast vollständig abhandengekommen. Schüttpelz zeigt Wege auf, der gedanklichen Enge zu entkommen.

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