Suche nach dem Paradisoid

von Andreas Pavlic

557 wörter
~3 minuten
Suche nach dem Paradisoid
Ilse Kilic
Alter Ego
Mutproben mit Zugaben
Ritter, 2025, 160 Seiten
EUR 19,00 (AT), EUR 19,00 (DE), CHF 26,90 (CH)

Was bedeutet es, älter zu werden? Das ist die Ausgangsfrage, der Ilse Kilic in ihrem neuen Buch Alter Ego nachgeht. Zur Beantwortung gibt sie der Textfigur Mimi La Whipp (einige werden sie aus vorherigen Büchern bereits kennen) den Auftrag, eine Zeitreise zu unternehmen. Sie möchte, dass diese »flott vorausaltert und den Lebensfaden voranklettert«, um beobachten zu können, »was Altwerden für sie bedeutet«. So geschieht es schließlich auch. Zur Begleitung stellt die Autorin Mimi La Whipp drei Textfiguren an die Seite: »Das wunderbar-schreckliche Nochmal, Nochmal«, wir alle kennen diese Figur und den Wunsch, Momente oder Phasen des Lebens zu wiederholen. Die zweite ist ebenfalls wohlbekannt, sie trägt den Namen »Oh dieses wunderbare Jetzt«: In all den Augenblicken, in denen wir uns wünschen, dass sie nicht vergehen, begegnet sie uns. Die dritte Figur ist jene der verpassten Gelegenheiten, da wir im Leben ja stets nur eine Möglichkeit wahrnehmen können, und ob es die richtige war, zeigt sich stets erst später. Die Figur selbst trägt den Namen »Später Immer Dung«. Warum Dung? »Dung ist nicht das Gleiche wie Humus, aber Später Immer Dung bleibt dabei, Humusistin zu sein. Dung ist ein wesentlicher Bestandteil von Humus, so viel ist immerhin klar.« Mit der Darstellung dieser Textfiguren wird ersichtlich, dass hier nicht analytisch vorgegangen wird, sondern assoziativ und vor allem verbindend.

Kilic betreibt ein essayistisches Spiel mit ungewöhnlichen Textfiguren und ebenso ungewöhnlichen Begriffen wie jenen der paradoxen Universalität, des Paradisoids oder des Angstituts. Die letzte Wortkreation bezieht sich auf den Ausdruck Instinktut, den die Autorin bei der Künstlerin Linntje gefunden hat, und auf die Überlegung, dass Älterwerden und Sterben Themen sind, die Angst auslösen. »Die Angst, die sich nicht so leicht wegschieben lässt, würde sich in einem Angstitut vielleicht wohlfühlen und sich von einer freundlicheren Seite zeigen, die sie ja zweifellos hat. Schließlich gäbe es ohne Angst keinen Mut, und wer weiß, ob es dann Großmut und Sanftmut gäbe.« Mit Erreichen des neunzigsten Lebensjahres lässt Kilic Mimi La Whipp wieder zu ihrem ursprünglichen Alter zurückkehren. Im Buch beginnt nun der zweite Abschnitt, die im Untertitel erwähnten »Zugaben«.

Wie im ersten Teil werden auch hier Gedichte, Zitate, Listen und Zeichnungen in den Text eingewoben. Die durch die Altersreise erworbenen Erfahrungen und aufgeworfenen Fragen werden nun zu neuen Anknüpfungspunkten an verschiedene Autor:innen von Susan Sonntag bis Ursula K. Le Guin. Auch das bereits erwähnte Paradisoid, das sich Kilic wie »eine Kostprobe aus Überfluss, Selbstbestimmung und Faulheit« vorstellt, wird wieder aufgegriffen und weitergedacht. Das individuelle Altern und Sterben ist dem größeren kollektiven Prozess der Evolution eingeschrieben. Diese wirft wiederum die Frage nach dem kollektiven Lernen auf und danach, ob ein Paradisoid überhaupt möglich ist. »Vielleicht steht die dünne Haut, die (nicht nur) die menschliche Lebensform umgibt, im Zentrum der Überlegungen zu paradiesischen Zuständen und deren Imitation, die hier auch als Paradisoid bezeichnet werden. Im Zentrum stünde dabei der schmale Grat an Umweltbedingungen, unter denen sich verschiedene Lebensformen entwickeln können. Die Verletzlichkeit des Lebens wäre Begleiterin aller Überlegungen.« Kilic führt mutig und gekonnt die seltene Kunst einer poetisch-experimentellen Reflexion vor. In diesem Fall über den Alterungsprozess, und das auf einer sowohl individuellen als auch kollektiven Ebene.

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