Frühjahr 2024: Der Holocaust ist einmal mehr Bezugspunkt politischer Konflikte. Brasiliens Präsident Lula da Silva (nicht nur er) setzt Israels exzessive Antwort auf das Hamas-Massaker in Analogie zum Holocaust. Die deutsche Außenministerin Baerbock entgegnet ihm: »Der Holocaust ist mit nichts zu vergleichen.« Analogisierdrang, Vergleichsverbot, beide in politischer Funktion.
Das Verdikt »mit nichts zu vergleichen« gewinnt an intellektuellem Kapital, insofern es mit der in den Medien, mehr noch in der Kunst verbreiteten Einschätzung korrespondiert, wonach der Holocaust sich jeglicher Repräsentation entzieht; genauer, er versetzt Repräsentation, die auf Bestände an verallgemeinerbaren Formen, implizit also auf Vergleichbarkeit, aufbauen will, in eine Krise. Zugleich schwingt in »mit nichts zu vergleichen«, wenn gewichtige mehrheitsdeutsche Stimmen das sagen, unversehens ein Werturteil mit: Polemisch gesagt, verrät dieses Wort, das an Reklame für »unvergleichliche« Waren erinnert, dass sich hier auch eine deutsche Primär-Zuständigkeit anmeldet, die Diskurshoheit untermauern soll. Es leistet dem Antisemitismus und der Israelfeindlichkeit keinen Vorschub, darauf hinzuweisen: Deutsche Meisterschaft und Feierlichkeitsroutine in staatstragender Erinnerungskultur umweben die Public History des Holocaust mit Vorstellungen von gepflegtem Besitz.
Der Holocaust ist deutsches Interessengebiet, um es mit dem Titel eines zweifach Oscar-prämierten Spielfilms zu sagen: Jonathan Glazers The Zone of Interest handelt vom Familienalltag des Auschwitz-Lagerkommandanten Rudolf Höß in den Jahren 1943 und 1944. Diese britisch-polnische Koproduktion mit deutscher Besetzung verbindet die hier genannten Perspektiven auf den Holocaust zu einem irritierenden Arrangement: Krise der Repräsentation, Beharren aufs Vergleichen, Bestand bzw. deutscher Besitz.
Deutscher Besitz ist in dem Film groß präsent: Alltag einer kinderreichen Spießerfamilie in ihrer Villa mit »Paradiesgarten« direkt an der Lagermauer. Weitwinkeloptik und Mehr-Kamera-Set-up nach Art von Big Brother-Haus-Überwachung erfassen das Höß-Heim: Bis zum Überdruss wird alles gezeigt, mit einem Minimum an Plot. Auf der anderen Seite der Mauer situiert der Film Krise und Kritik der Repräsentation in Bezug auf das Leid und routinierte Morden im von Höß geleiteten KZ. (Der Filmdialog bevorzugt das bei den Nazis gängige Kürzel »KL«.) Fast nichts wird dort gezeigt, mit einem Maximum an Plot: Ein großer, ja, monströser Frame an Ahnungen und Vorwissen leitet unser Filmschauen an, lässt uns Anzeichen deuten – vereinzelte Schreie und Schüsse, die eine bedrohliche Soundscape über die Mauer dringen lässt; Anblicke und Erwähnungen von Asche.
Die Mauer verbindet Sehen und Hören als Getrenntes. Glazers Inszenierung forciert ein Unverhältnis: zwischen Besitzbestand hier und Repräsentationskrise dort. Letzteres, die Repräsentation als Problem, wird zur Dominante dieses Unverhältnisses, das den Film ausmacht. Wie verhalten sich vorgeführtes Krampf-Idyll und impliziter Massenmord zueinander? Abstrakt gesehen, erscheint »Auschwitz« wie ein Apriori, das als kategorische Voraussetzung in allen Alltagsanblicken und Plaudereien im Haus (später in SS-Büros; da geht’s meist um Karrierefragen) mitläuft, diese massiv prägt, aber nie präsent, kaum repräsentiert ist. Es ist die Raison d’Être des Films; ohne sie wäre The Zone of Interest nur Kleinbürger-Reality-Fernsehen.
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