Chile vor der Zeitenwende

von Karin Fischer

Illustration: Christoph Kleinstück

Überraschend kam der soziale Aufstand in Chile nicht. Nicht vorhersehbar waren dagegen Heftigkeit und Dauer der Proteste.


977 wörter
~4 minuten

Das Etikett »sozialer Aufstand« – estallido social –, das die Sozialwissenschaft den Protesten im vergangenen Jahr verpasste, ist längst überholt. Seit Oktober 2019 finden landesweit Aktionen, Massenkundgebungen und Besetzungen statt (siehe dazu auch den Beitrag von Lukas Oberndorfer auf den Seiten 22 bis 26). Begleitet werden sie von hunderten Bürgerversammlungen und rätedemokratischen Foren. Selbstorganisiert oder einberufen von Nachbarschaftskomitees diskutieren Bürgerinnen im Park, auf der Straße oder im Sozialzentrum ihre politischen Anliegen: von menschenwürdigem Wohnen bis zur lokalen Gesundheitsversorgung, von Maßnahmen gegen Polizeiübergriffe bis zu den Inhalten einer neuen Verfassung. Überregional koordiniert werden die »Asambleas« und »Cabildos« von Delegierten und Unidad Popular, einer von 200 NGOs, indigenen Gruppen, Künstler-Initiativen, Studierenden-Organisationen und unabhängigen Gewerkschaften getragenen Plattform.

Symbol neoliberaler Herrschaft ist die Verfassung aus der Zeit der Diktatur, die nach Friedrich August von Hayek als »Verfassung der Freiheit« benannt ist. Sie zementiert unverändert trotz einiger Reformen eine neoliberale Ordnung. Mehr als Hayek sorgen dafür die Lehrsätze der Public-Choice-Schule: Für jede staatliche Leistung muss es auch eine private geben. Private Anbieter von Bildung, Gesundheit, Wohnbau und anderen Versorgungsleistungen dürfen gegenüber staatlichen nicht »diskriminiert« werden. Das neoliberale Credo der Wahlfreiheit für den Konsumenten steht über den sozialen Rechten für die Staatsbürgerin. Dazu kommt ein weiteres demokratiefeindliches Element, das die Public-Choice-Theoretiker James M. Buchanan und Gordon Tullock – gern gesehene Gäste zu Zeiten der Diktatur – erdacht haben: Um unliebsame Eingriffe in die Freiheit des Marktes zu verhindern, sind wirtschaftspolitische Maßnahmen – wie die Einführung staatlicher Leistungen oder Änderungen im Steuersystem – mit hohen Mehrheitsanforderungen von zwei Dritteln oder drei Fünfteln belegt. Das verhinderte auch nach dem Übergang zur Demokratie einen grundlegenden Politikwechsel: Die politische Rechte mit ihrem historischen Drittel der Wählerstimmen kann so ihr unliebsame Entscheidungen und Gesetze blockieren.

Auf Druck der Straße einigten sich die rechten Regierungsparteien mit großen Teilen der Opposition am 15. November letzten Jahres auf ein Referendum über eine neue Verfassung. Die Wahlberechtigten können entscheiden, ob sie die alte Verfassung beibehalten oder eine neue wollen. Dass die zweite Option siegen wird, bezweifelt niemand. In der jüngsten Umfrage des Thinktanks CEP sprechen sich 67 Prozent dafür aus, lediglich 13 Prozent dagegen. Der ursprünglich für 26. April anberaumte Urnengang wurde aufgrund der Corona-Pandemie verschoben. Entschieden soll nun erst im Oktober werden – auch darüber, ob der Verfassungskonvent je zur Hälfte aus direkt gewählten Bürgerinnen und aus derzeitigen Parlamentariern, über die im Kongress abgestimmt wird, zusammengesetzt sein soll oder zur Gänze aus direkt gewählten Mitgliedern. In beiden Varianten werden es zur Hälfte Frauen sein. Ein Sieg des Feminismus. Die politische Repräsentation der Indigenen war zu Redaktionsschluss noch offen.

Allerdings enthält das Verfahren für eine neue Verfassung ein wichtiges Element, das der neoliberalen Demokratietheorie der Public-Choice-Schule entspringt: Alle Artikel bedürfen der Zustimmung von zwei Dritteln der Delegierten. Das soll den rechten Vertretern im Konvent zu einem Vetorecht verhelfen. Die am 15. November geschlossene »Übereinkunft für sozialen Frieden und eine neue Verfassung« trägt also ein Kernstück der alten Verfassung in sich. 

Frente Amplio, das Ende 2016 gegrün-dete und seit 2017 in Kongress und Senat vertretene Parteienbündnis der neuen Linken, zerbrach über die Zustimmung zu den Bedingungen des Referendums. Die beiden Grünparteien, die Humanistische Partei und einige andere Gruppen stiegen aus dem Bündnis aus.

»IN DER LINKEN BRAUCHT ES DIE VER- BINDUNG ZWISCHEN EINER ›POLITIK
DER STRASSE‹ UND EINER ›POLITIK DER KORRIDORE.«

Auch innerhalb der unterzeichnenden Parteien führte das Stimmverhalten einzelner Abgeordneten zu schweren Zerwürfnissen. Zu den Unterzeichnern gehört zum Beispiel Gabriel Boric, der als Studentenvertreter mit den meisten Stimmen, die eine Person jemals bei Wahlen erhalten hat, ins Parlament eingezogen ist. Boric hat im Jänner auch dem »Ley antisaqueos y antibarricadas« seine Stimme gegeben. Mit diesem Maßnahmenpaket erhält die Polizei erweiterte Rechte. Straßenblockaden und Angriffe auf Privateigentum werden mit bis zu fünf Jahren Haft geahndet. Auch wer Autofahrer zum Tanzen bringt – »el que baila pasa« (»Wer tanzt, darf weiterfahren«) –, muss mit bis zu 540 Tagen Haft rechnen. Beatriz Sánchez, die Chefin des Frente, wurde in der Zona Cero, wo die Proteste in der Hauptstadt kumulieren, ausgebuht. 

Damit werden mindestens zwei Hürden auf dem Weg in eine neue Gesellschaft sichtbar. Während die parteiförmige alte und neue Linke zersplittert ist, versammelt sich eine moderate Rechte und Unternehmerfraktion geschlossen hinter der Formel: Es braucht Korrekturen, aber das »chilenische Modell« ist gut und alternativlos. Die Beziehung zwischen Bewegung und institutionalisierter Politik ist nicht erst seit dem »Acuerdo« zerrüttet. Die bestechende Idee, dass außerparlamentarische Bewegungen als »Spielbein« den Vertreterinnen im Parlament, dem »Standbein«, die nötige Schubkraft zur Durchsetzung von Forderungen verleihen, klappt auch in Chile nicht. Die Vertreter der Linksparteien fürchten sich vor der Radikalität der Straße. Dort versammeln sich nicht nur Lehrer-Gewerkschafter und Studentinnen, Feministinnen und Indigene, alte Kämpfer gegen Pinochet und empörte Angehörige der Mittelschicht, sondern auch die sogenannten »flaites«, die »Proleten«: Jugendliche aus den großräumigen Stadtrandgebieten. Dort leben die untere Mittelschicht und Unterschicht, und viele andere, die weder Arbeit noch Zukunft haben, aber über einen ausgeprägten Klasseninstinkt verfügen. Die Ablehnung jeder Art von institutionalisierter Politik schafft ein Repräsentationsproblem. Laut jüngster Umfrage des CEP vertrauen nur zwei Prozent den Parteien und drei Prozent den Parlamentariern selbst. 

Eine neue Verfassung ist ein Meilenstein. Im kommenden Referendum wird es aber auch darum gehen, ob die Politisierung der chilenischen Gesellschaft ihren Ausdruck in einer Versammlung findet, die aus Bürgerinnen besteht oder in der die Rechte eine Sperrminorität hat. Für eine Zeitenwende braucht es in der Linken eine Verbindung zwischen einer »Politik der Straße« und einer »Politik der Korridore« – damit neue Formen von Gemeinschaft, Demokratie und Solidarität ihren Weg in die Institutionen finden.

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