Anarchy in the USA

von Jens Kastner

508 wörter
~3 minuten
Anarchy in the USA
Anatole Dolgoff
Links der Linken Sam Dolgoff und die radikale US-Arbeiterbewegung
Verlag Graswurzelrevolution, 2020, 426 Seiten
EUR 25,60 (AT), EUR 24,90 (DE), CHF 32,50 (CH)

In einem Bericht über die USA-Tournee der Band Die Goldenen Zitronen schreibt deren Bassist und Gitarrist Ted Gaier: »Seit der Industrialisierung wurden alle Bewegungen, die für eine politische Alternative zur Diktatur des Marktes kämpften, brutal vernichtet und die Erinnerung an sie ausgelöscht oder verfälscht.« Explizit zählt Gaier in seinem aktuellen Buch Argumentepanzer dazu auch die Anarchistinnen und Anarchisten. Ein solcher war Sam Dolgoff (1902–1990) und mit der Geschichte seines Lebens ist es so wie im Zitat beschrieben. Dolgoff gehörte ab 1922 der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft Industrial Workers of the World, den sogenannten Wobblies, an und war Mitglied verschiedener Zeitschriftenredaktionen. Dolgoff ist Autor eines viel rezipierten Buches über einen der Gründerväter des modernen Anarchismus, Michail Bakunin. Einem deutschsprachigen Publikum ist zudem vielleicht sein Buch Leuchtfeuer in der Karibik aus dem Jahr 1983 zur Kritik der Kubanischen Revolution bekannt. Aber Dolgoff war keineswegs ein typischer Intellektueller. Er war Maler und Anstreicher und begann sein Arbeitsleben zu Zeiten, als Kinderarbeit noch üblich war, als Achtjähriger. Nach der Arbeit bildete er sich zu Hause und las in jeder freien Minute. Sein Sohn Anatole Dolgoff erzählt das in der soeben im anarchistischen Verlag Graswurzelrevolution erschienenen Biografie über diesen außergewöhnlichen Kämpfer für Freiheit und Gerechtigkeit.

Es ist die überaus emphatisch geschriebene Lebensgeschichte eines Mannes, der Stolz auf seine Arbeit war, und der Privilegien und alle, die sie in Anspruch nahmen, verachtete. Die Geschichte Sam Dolgoffs ist schon insofern eine Geschichte über den Anarchismus des 20. Jahrhunderts, als sich in seiner Person dessen zentrale Charakteristika verkörpern: das kompromisslose Ethos gepaart mit der radikalen Haltung, jede Beteiligung an der bürgerlichen Demokratie würde die Menschen nur dazu verleiten, »sich an ihrer eigenen Versklavung zu beteiligen«. Gleichzeitig betreibt das Buch über die Person hinausgehend eine kleine Sozialgeschichte des Anarchismus in den USA.

Da treffen Siedlungsanarchismus auf Arbeiterstreiks, individualistisches Rebellentum auf organisierten Anarchosyndikalismus; auch die konkreten Streitfragen innerhalb der anarchistischen Milieus – wie etwa pro oder contra Kriegseintritt der USA – werden anschaulich geschildert. Deutlich wird weiterhin, dass die kulturellen Gräben zwischen den anarchistischen Arbeitern und den studentischen, lebensstilbetonten Anarchismen sich lange vor dem Erstarken der Neuen Linken in den 1960er Jahren andeuteten. Sam Dolgoff und seine Frau und Kampfgefährtin Esther »fanden das Verhalten vieler dieser ›Lifestyle‹-Anarchist*innen ärgerlich«, schreibt ihr Sohn. 

Auch wenn Anatole Dolgoffs Erzählweise anekdotisch und dialogverliebt, gewissermaßen typisch US-amerikanisch ist, erschafft sein Text doch ein beeindruckendes Panorama des libertären Kommunismus in den USA. Dessen Ausgangspunkt kommt vielleicht in der Gründungserklärung der Libertarian League von 1963 schön zum Ausdruck: »Die ›freie‹ Welt ist nicht frei; die ›kommunistische‹ Welt ist nicht kommunistisch.« Das Buch ergänzt Dolgoffs Autobiografie Anarchistische Fragmente ebenso gut wie die kürzlich erschienene Sammlung der von Gabriel Kuhn im Vorjahr herausgegebenen Wobblies-Originaltexte Wobblies. Politik und Geschichte der IWW. Es bietet außerdem einen unterhaltsamen Einstieg ins Thema – und gehört somit definitiv nicht allein auf den Büchertisch bei der nächsten USA-Tournee der Goldenen Zitronen.

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