Wo sich Antisemitismus und Frauenhass treffen

von Andrea Heinz

544 wörter
~3 minuten
Wo sich Antisemitismus und Frauenhass treffen
Delphine Horvilleur
Überlegungen zur Frage des Antisemitismus
Hanser, 2020, 160 Seiten
EUR 18,50 (AT), EUR 18,00 (DE), CHF 25,90 (CH)

Dass Antisemitismus und Frauenhass eine gemeinsame Wurzel haben, ist nicht weiter überraschend. Man müsste nicht einmal Adorno gelesen haben und diesen Satz aus der Dialektik der Aufklärung kennen, der da besagt: »Die Erklärung des Hasses gegen das Weib als die schwächere an geistiger und körperlicher Macht, die an ihrer Stirn das Siegel der Herrschaft trägt, ist zugleich die des Judenhasses.« Man versteht auch so, dass Mensch nicht gleich Mensch ist, dass es die Einen gibt – und die Anderen. Und dass zu diesen Anderen eben Frauen und Juden gehören. Das ist nicht neu. Trotzdem lohnt es sich, Delphine Horvilleurs Überlegungen zur Frage des Antisemitismus zu lesen, in denen die französische Rabbinerin die Parallelen von Antisemitismus, Faschismus und Misogynie untersucht. 

Besonders macht den Essay vor allem Horvilleurs Blickwinkel, der für Menschen, die gewohnt sind, Antisemitismus vor allem aus der europäisch-christlichen Perspektive zu betrachten, nicht nur Neues, sondern auch sehr Erhellendes zu bieten hat. Denn Horvilleur sieht sich an, welche Erklärungsmuster die Juden selbst in der Rabbinischen Literatur, in Talmud und Midrasch, für den Hass gefunden haben, der ihnen seit Jahrtausenden entgegenschlägt. In den Texten, die sie heranzieht, wird eines deutlich: Was die jüdische Identität auszeichnet, ist, dass es sie nicht gibt. Das beginnt mit Abraham, dem allerersten Hebräer, dessen Bezeichnung sich nicht auf einen Ursprung, einen Herkunftsort bezieht, sondern auf die Tatsache, dass er diesen Ursprung verlassen hat: »In der Sprache der Bibel ist der Hebräer (Ivri) wörtlich derjenige, der überquert, der Überquerende.« Und es endet mit Jacques Derrida, dem einst vom Vichy-Regime der Schulbesuch verboten wurde und der zur Definition des Jüdischseins einmal sagte: »Nun, ich weiß, dass ich es nicht weiß, und ich verdächtige alle, die es zu wissen meinen, es nicht zu wissen …« 

Dieses Un-Eindeutige, Nicht-Abgeschlossene, das immer auch eine Möglichkeit, eine Offenheit impliziert, ist es, von dem die Antisemiten sich letztlich bedroht fühlen. Weil es ihr totalitäres Phantasma vom Eins-Sein, von der absoluten Identität in Frage stellt. Auch an diesem Punkt treffen sich Antisemitismus und Frauenhass. Horvilleur verweist unter anderem auf Otto
Weininger, selbst jüdischer Herkunft, der es vor seinem frühen Selbstmord noch schaffte, der Welt das gleicher-maßen juden- wie frauenfeindliche Geschlecht und Charakter zu hinterlassen.

Sie wirft in ihrem kurzen, übrigens sehr schön zu lesenden Essay unterschiedliche Aspekte auf, gegen Ende geht es im Kapitel »Konvergenz der Kämpfe« etwa um die totalitären Tendenzen mancher linker Bewegungen oder um die Frage, warum Juden gerade innerhalb der Linken oft als Feindbild gelten. Horvilleur reißt viele wichtige und bedenkenswerte Themen an, bisweilen wünscht man sich eine tiefer gehende Analyse. Aber natürlich, es handelt sich um einen Essay und als solcher ist er vollends gelungen. Schon allein, weil man Jüdinnen und Juden nicht wie üblich als Opfergemeinschaft präsentiert bekommt, sondern einen Blick auf ihre reiche, souveräne (Geistes-)Geschichte werfen darf. Und weil deutlich vor Augen geführt wird, dass Antisemitismus und Frauenhass eben nicht das Problem bestimmter Gruppen sind. Sondern dass dahinter ein totalitärer, faschistischer Anspruch steckt, der jeden und jede bedroht, der oder die frei und selbstbestimmt leben möchte.

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