Es ist in ihrem Interesse, dass Nixon seine zweite Amtszeit bekommt«, stellte der legendäre US-Journalist Hunter S. Thompson im Jahre 1972 bei einem Gespräch mit einem Zuhälter fest (»Pimps and hustlers have a fine instinct for politics«). Doch Thompson meinte damit keineswegs die republikanischen Parteifreunde Nixons, sondern mächtige Demokraten jener Zeit wie Ted Kennedy, die aus Angst vor Machteinbußen den progressiven Außenseiterkandidaten der Demokraten, George McGovern, sabotierten. Diese Dynamik, die Thompson in seiner messerscharfen Reportagensammlung Fear and Loathing on the Campaign Trail 72 beschrieb, wiederholte sich augenscheinlich 2016 und 2020 mit der Kandidatur des demokratischen Sozialisten Bernie Sanders.
Zu Jahresbeginn schien der Sieg bei den Primaries für Sanders noch in greifbarer Nähe. Er führte in vielen Umfragen. Bei den ersten drei Vorwahlen in Iowa, New Hampshire und Nevada erhielt er die meisten Stimmen. Das moderate Lager war zersplittert, niemand schien in der Lage zu sein, der breiten politischen Bewegung von Sanders etwas entgegensetzen zu können. Zu diesem Zeitpunkt machte ihn das zum »unvermeidbaren Kandidaten« – wie auch der Titel eines schlecht gealterten Kommentars in TAGEBUCH N° 3 lautete. Doch dann kam der Super Tuesday und die Sanders-Kampagne schmierte nach Niederlagen in zahlreichen Bundesstaaten ab. Was war geschehen?
»WEDER DIE ANGRIFFE DER MEDIEN NOCH DIE INTRIGEN DES PARTEIAPPARATS KAMEN ÜBERRASCHEND. DIE SANDERS-KAMPAGNE HÄTTE SICH DARAUF EINSTELLEN MÜSSEN.«
Bernie Sanders rasanter Abstieg wird von seinen Anhängern häufig auf die einseitige Berichterstattung der US-Medien über seine Kampagne zurückgeführt. Zu den Tiefpunkten zählte der Vergleich von Sanders Wahlsieg in Nevada mit dem Einmarsch der Nazis in Frankreich durch den liberalen MSNBC-Moderator Chris Matthews. Sein Kollege Chuck Todd bezeichnete Pro-Sanders-Aktivisten wiederum als »digitale Braunhemden-Brigade«. (Beiden war wohl entgangen, dass Sanders Sohn eines jüdisch-polnischen Einwanderers ist, dessen Familie von den Nazis verfolgt wurde.)
Solch verbale Entgleisungen sind entlarvend: Der journalistische Anspruch auf Ausgewogenheit wurde einem politischen Projekt untergeordnet – der Sozialist muss verhindert werden.
Diesem Vorhaben schlossen sich nicht nur Milliardäre wie Jeff Bezos oder Michael Bloomberg an. Letztlich war es Barack Obama, der mehrere moderate Kandidaten zum Rückzug drängte, damit sich der Establishment-Flügel der Partei hinter Joe Biden konsolidieren und Sanders stoppen konnte. Gleichzeitig blieb die linksliberale Elizabeth Warren trotz geringer Siegeschancen im Rennen und spaltete dadurch das progressive Lager. Warren, laut eigener Aussage »bis ins Knochenmark Kapitalistin«, schloss sich damit indirekt der »Stop Sanders«-Koalition an, um sich als Bidens Vizekandidatin in Stellung zu bringen. Zum Zerwürfnis mit Sanders kam es schon zu Jahresbeginn. Aus dem Umfeld Warrens wurden Sexismus-Vorwürfe gegen den Senator aus Vermont laut. Sanders soll ihr gegenüber behauptet haben, dass eine Frau gegen Trump nicht gewinnen könne, was er vehement bestritt. Immerhin engagierte er sich bereits zu einer Zeit für Frauenrechte, als Warren noch Mitglied der Republikanischen Partei war.
Weder die Angriffe der Medien noch die Intrigen des Parteiapparats kamen überraschend. Die Sanders-Kampagne, die mit über 200 Millionen US-Dollar Spendeneinnahmen finanzieller Spitzenreiter war, hätte sich strategisch darauf besser einstellen müssen. Vielleicht war es ein Fehler, dass Bernie Sanders von Anfang an ausschloss, im Falle einer Niederlage bei den Primaries eine unabhängige Kandidatur anzustreben. Damit nahm er sich ein wichtiges Druckmittel. Donald Trump hatte im Gegensatz dazu bei seinem Vorwahl-Siegeszug 2016 den Republikanern das Fürchten gelehrt, indem er diese Möglichkeit explizit offen ließ. Die Drohkulisse war effektiv, da US-Präsidentschaftswahlen meist knapp ausgehen. Bernie Sanders zog es vor, Teamplayer zu sein und nach den Regeln einer Mannschaft zu spielen, der er nie richtig angehörte. Sanders ist eigentlich parteilos und nur im Senat Teil der demokratischen Fraktion.
Ganz bestimmt war es ein Fehler, dass Sanders seinen internen Rivalen nicht schärfer attackierte. Biden galt nach seinen blamablen Niederlagen in den ersten Wahlgängen als abgeschrieben. Er setzte alles auf South Carolina, wo er als »Obamas Mann« unter der afroamerikanischen Bevölkerung viel Ansehen genießt. Die Sanders-Kampagne war im Umgang mit dem ehemaligen Vizepräsidenten gespalten. Sanders-Berater Jeff Weaver, der mittlerweile eine Lobbygruppe zur Unterstützung Bidens ins Leben gerufen hat, schlug einen rein inhaltlichen Wahlkampf vor. Nina Turner, die stellvertretende Vorsitzende der Kampagne, forderte dagegen gemeinsam mit dem Berater David Sirota eine härtere Gangart gegenüber »Uncle Joe«. Dieser müsse entzaubert werden, seine Unterstützung für den unpopulären Irakkrieg ebenso thematisiert werden wie sein Mitwirken an der Justizreform 1994, die zur Massenverhaftung von Afroamerikanern führte. »Das ist das Einmaleins des Wahlkampfs. Du hebst dich ab oder du verlierst. Und im Falle Bidens war der Gegensatz besonders stark«, resümierte Sirota, inzwischen Redakteur beim linken US-Magazin Jacobin, auf seinem Blog. Bernie Sanders entschied sich gegen eine Anti-Biden-Kampagne und verlor. Ob wegen seines persönlichen Stils, der Freundschaft zu Biden oder aus Angst, eine tiefere Spaltung der Demokraten spiele Trump in die Hände – über Sanders Beweggründe können wir nur spekulieren. Eines ist gewiss, Sanders offenbarte sich damit als integrer Politiker, jedoch nicht als geschickter Taktiker.
Viele Fragen bleiben nach Sanders’ Rückzug offen. Warum warf er das Handtuch vorzeitig, statt bis zum Parteitag im August Delegierte zu sammeln und seinen Einfluss zu wahren? Warum versuchte er nicht, politische Zugeständnisse von Joe Biden zu erzwingen, bevor er ihm seine Unterstützung zusicherte? Fest steht, die von Sanders erhoffte Massenmobilisierung von Erst- und Nichtwählern fand nicht statt. Obwohl die Mehrheit an der demokratischen Basis laut Umfragen inhaltlich näher bei Sanders als bei Biden steht, hat sie sich für den vermeintlich stärkeren Kandidaten entschieden.
Die politische Revolution wurde abgesagt. Wird die nicht zuletzt durch die Sanders-Kampagne politisierte neue Linke Joe Biden als geringeres Übel wählen? Oder wird diese Bewegung andere Möglichkeiten des politischen Wirkens finden? Ihr Frust könnte nicht größer sein. Ausgerechnet in Zeiten der Pandemie und der Massenarbeitslosigkeit müssen sich die Menschen entscheiden, ob sie einen Rechtsextremen oder einen Neoliberalen zum Präsidenten küren wollen.
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