Am 1. August wäre Pierre Bourdieu 90 Jahre alt geworden. Jens Kastner würdigt »den bedeutendsten Soziologen Frankreichs« (FAZ) in dieser Ausgabe umfassend (Seite 46): in seiner Rolle als junger Wissenschafter auf Feldforschung in Algerien, als Impulsgeber der globalisierungskritischen Bewegung und schließlich und in der Hauptsache als beständigen Analytiker und Kritiker von Herrschaft, Gewalt und Staat. In seinen Vorlesungen über Letzteren, die um die Epochenwende von 1989 entstanden und erst vor drei Jahren auf Deutsch erschienen sind, bestimmte Bourdieu den Staat unter anderem als jenen Ort, der »die Grundlage nicht unbedingt eines Konsenses, wohl aber der Existenz von Austauschbeziehungen darstellt, die zu einem Dissens führen«. Man muss Bourdieus Betrachtungen zum Staat nicht teilen, um immerhin das schleichende Abhandenkommen der Regeln, nach denen im öffentlichen Raum gerungen wird, zu bedauern. 

»Tatsächlich«, schreibt Kollege Benjamin Opratko in unserer diesmaligen Titelgeschichte, »bricht sich gerade Bahn, was seit Jahren in unseren Gesellschaften als Alltagsideologie schwelt: die Ablösung ganzer Gesellschaftsschichten von den bislang das Soziale ordnenden, Orientierung bietenden Institutionen und Erzählungen«. Wie sich der Hang zur Ablehnung erklären lasst und was er uns sagen will, lesen Sie ab Seite 16. 

Dass diese Entwicklung nicht frei von Widersprüchen, dafür reich an Fallstricken ist versteht sich. Was sagt es etwa über die Linke aus, wenn sie sich in »eine strukturkonservative, Macht und Ordnung im Namen der Vernunft verteidigende Allianz aus Konservativen [und] Liberalen« (Opratko) einordnet? Florian Mühlfried fragt im Rahmen unserer Kontroversen danach, wohin sich die ehedem fortschrittliche Tugend, staatlichen Anordnungen zu misstrauen, im Lichte der Pandemie aufgemacht hat (Seite 10).

Als Monopolist der symbolischen Gewalt und ihrer physischen Anwendung hat sich der Staat zuletzt nicht nur durch die Zwangsmaßnahmen in der Corona-Krise in Erinnerung gerufen. Im Mord an George Floyd und in der Repression gegen die daran anschließende massenhafte Erhebung gegen den strukturellen Rassismus in unseren Gesellschaften erwies sich einmal mehr, dass in der Arena, in der Widersprüche ausverhandelt und Konflikte umstritten werden, keine Waffengleichheit herrscht. Das gilt im Wortsinn – und nicht ausschließlich für die Vereinigten Staaten. Über die Ursachen der rassistischen Polizeigewalt, die Unfähigkeit der liberalen Eliten und über historische Beispiele für race-übergreifende Solidaritäten unter Ausgebeuteten hat sich Loren Balhorn mit Asad Haider unterhalten. Das Gespräch mit dem in New York lebenden Philosophen und Autor lesen Sie ab Seite 34. Es hält erfrischend Grundsätzliches bereit; etwa über den Charakter des bürgerlichen Staates und die Funktion der Polizei darin – immerhin ist die Forderung Defund the Police, danach also, der Polizei die Finanzierung zu entziehen, zu einem zentralen Anliegen der Black Lives Matter-Bewegung geworden. Angelika Adensamer und Philipp Sonderegger schätzen die Sinnhaftigkeit dieser Forderung im Rahmen unseres Pro & Contra naturgemäß unterschiedlich ein (Seite 12).

Asad Haider jedenfalls, soviel Vorgriff sei erlaubt, hält es in seinen Analysen eher mit Marx, weniger mit Bourdieu. Oder mit dem 1934 im KZ Oranienburg ermordeten deutschen Schriftsteller Erich Mühsam. Der begann sein Gedicht Freiheit in Ketten mit den, wie Kollege David Mayer anmerkt, »wenig sozialdemokratischen« Zeilen:

»Ich sah der Menschen Angstgehetz; / ich hört der Sklaven Frongekeuch. / Da rief ich laut: Brecht das Gesetz! / Zersprengt den Staat! Habt Mut zu euch!«

Kommen Sie gut durch den Sommer!

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