Das Leben ein Generalstreik

von Christopher Wimmer

Illustration: Christoph Kleinstück

In der Zwischenkriegszeit entwickelte sich in Deutschland und Österreich eine – häufig militante – Bewegung von Erwerbs- und Wohnungslosen. Heute ist sie gemeinhin vergessen.


1589 wörter
~7 minuten

Ende 1928 sorgte ein Flugblatt für viel Aufsehen: Eine »Bruderschaft der Vagabunden« rief darin zum »ersten internationalen Vagabundenkongress« ins württembergische Stuttgart auf. Trotz massiver Polizeisperren kamen vom 21. bis zum 23. Mai 1929 über 600 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zum Kongress – und demonstrierten danach durch die Stuttgarter Innenstadt. Vagabunden, also Landstreicher, Obdach- und Wohnungslose, »fahrendes Volk«, wollen »die Kraft und den Willen haben, sich zu einer Art Kongreß zusammenzutun?«, fragte ungläubig die sozialdemokratische Zeitung Vorwärts am 4. Mai 1929. 

Damals wie heute spiegeln sich in der Sozialfigur des Vagabunden verschiedene Diskurse. Auf der einen Seite steht er in Opposition zur herrschenden Norm. Die antibürgerliche Haltung, befreit von alltäglichen Lasten und Pflichten, zeigt sich in romantischen Vorstellungen vom Bohémien, der nur der Ungebundenheit und dem Abenteuer verpflichtet ist. Die Lebensweise des Vagabunden verspricht somit Freiheit. Eine solche Aufwertung des Vagabundenlebens findet sich in der Literatur, die deren Rebellentum besonders herausstellt, von François Villon über Paul Zech bis hin zu Erich Mühsam und Bertolt Brecht.

Doch die Realität sah und sieht anders aus. Landstreicher, wohnungs- und obdachlose Menschen wurden stets als das Andere, als Abnormale und Fremde disqualifiziert, Vagabunden notorisch unterdrückt und verfolgt. Wer nicht arbeiten wollte oder konnte, wohnsitzlos oder fremd war, wurde aus der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen. Bereits in der Frühmoderne entwickelte sich eine Unterscheidung zwischen arbeitsfähigen und arbeitsunfähigen Armen, eine Trennlinie zwischen Gut und Böse, anhand derer soziale Hilfen gewährt oder verweigert, Freiheitsrechte verwehrt oder ermöglicht wurden. Sesshaftigkeit, Integration und Beteiligung an Erwerbsarbeit waren die Garanten für ein gesellschaftlich als würdevoll angesehenes Leben. Schon 1349 wurde in England das erste Gesetz über eine Pflicht zur Arbeit beschlossen. Im Laufe des 16. Jahrhunderts folgten in ganz Europa Bettelverordnungen und -verbote, die festlegten, wer zum Betteln berechtigt war und wer nicht. In diesen ersten Ansätzen zur Erfassung der Arbeitsunfähigen kann die Grundlage für die moderne Ausweispflicht erkannt werden.

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