Texte zum Roten Wien – eine Eloge

von David Mayer

Mit »Das Rote Wien. Schlüsseltexte der Zweiten Wiener Moderne« bietet ein Kollektiv von Historikern ein intellektuelles Flanierbuch mit vielerlei Anknüpfungen an Probleme der Gegenwart.


1231 wörter
~5 minuten

Historische Textsammlungen und Quelleneditionen tragen sich für gewöhnlich nicht einem größeren Kreis von Leserinnen als informative oder gar genüssliche Lektüre an. Es gibt freilich Ausnahmen, wie eine Gruppe mit der Zwischenkriegszeit und dem Roten Wien befasster Historiker und Historikerinnen zeigt: Sie haben mit Das Rote Wien. Schlüsseltexte der Zweiten Wiener Moderne einen beispiellos vielstimmigen Fundus politischer und intellektueller Interventionen aus dem Roten Wien zusammengetragen. Er eignet sich gleichermaßen für das Hineinhören in eine bewegte Epoche wie für eine gegenwartsorientierte Wiederaneignung einer Zeit lebhafter Ideen zu emanzipatorischer Veränderung. Und er erlaubt ein nicht-lineares Umherschweifen zwischen Texten und Themen – »Ich schau’ nur mal« als Lesemethode.

Auf das Rote Wien wird in den letzten Jahren wieder verstärkt Bezug genommen, auch international. Die Errungenschaften der sozialdemokratischen Stadtregierung in den Jahren 1919 bis 1934 müssen an dieser Stelle kaum ausgeführt werden, lassen sich mit Stichworten wie Wohnbauprogramm, Schaffung sozialer Infrastrukturen sowie Bildungs- und Kulturpolitik umreißen. Über die Sphäre des Politischen im engeren Sinne hinaus gelang im Roten Wien zugleich ein Zusammenwirken aus breiter Bewegung und intellektueller wie künstlerischer Regung. Zeitgenössischen linken Kritikerinnen galt das Reformprogramm der Sozialdemokraten immer nur als ein begrenzter Ersatz für die unvollendete soziale Revolution, die Gegner jeder Sozialismusidee aber erkannten in ihm stets eine Bedrohung, die über das Stadtpolitische hinauswies. 

Die historische Textedition ist in zwölf Abschnitte mit 36 Kapiteln eingeteilt. Sie umfasst einen Bogen verbunden-aparter Themen von Steuerpolitik über Gesellschaftsplanung (Gesundheit, Wohlfahrt, Bildung) bis hin zu Wohnen, von Kulturpolitik über Medien zu wissenschaftlich-geistigen Strömungen, von Sexualität über die »neue Frau« hin zu Architektur. Alle Kapitel werden knapp, aber kenntnisreich eingeleitet, die einzelnen Texte kommentiert. Diese rahmenden Texte ergeben für sich genommen bereits eine gelungene, weil perspektivenreiche Einführung in die Geschichte des Roten Wien. 

Viele der prägenden politischen und intellektuellen Stimmen kommen zu Wort: Otto Bauer, Hugo Breitner, Max Adler oder Käthe Leichter; Otto Neurath, Marie Jahoda, Otto Glöckel oder Alice Rühle-Gerstel; aber auch Adolf Loos, Sigmund Freud, Wilhelm Reich oder die Schriftstellerin Gina Kaus. An der Auswahl der Namen und Texte wird deutlich: Das Rote Wien als Ort neuer Ideen lässt sich nur als Beziehungsgeschichte ermessen. Seine Wirkmacht entfaltete es nicht nur aus der Stärke der eigenen Bewegung, sondern durch vielseitige Bezugnahmen – durch bürgerliche Intellektuelle, durch die politischen Gegner, durch linke Kritikerinnen, durch den Einfluss der Oktoberrevolution und des »Amerikanismus«, durch internationale Beobachterinnen. Dieses Geflecht anschaulich zu machen, gelingt der Textsammlung in hohem Maße – nicht zuletzt durch einen eigenen Abschnitt zu »Reaktion«, der Texte aus dem antisemitischen, Schwarzen und Braunen Wien versammelt. 

Was an den Texten ins Auge sticht: Frauen brachten ihre Stimme in einem Maße in die politische wie intellektuelle Debatte ein, wie man es in Österreich erst Jahrzehnte später wieder erlebte. So nimmt die sozialdemokratische Pädagogin Stephanie Endres in Rhythmus und Proletariat (1930) spätere linksalternative Töne vorweg, wenn sie der »körperliche[n]-rhythmische[n] Versklavung des Proletariats« eine Turn- und Sportpraxis entgegenhält, mit der eine »stetige Übung des individuellen Rhythmus« möglich werden soll. Man hört die problematischen Echos eugenischer und sozialhygienischer Vorstellungen, wenn die Ärztin Margarete Hilferding gegen die von ihr kritisierte »Flucht vor der Mutterschaft« den »Wunsch nach dem gewollten Kinde an Stelle der Zufallsmutterschaft« stark macht. Man kann Margarethe Schütte-Lihotzky bei ihren Überlegungen zur Rationalisierung im Haushalt (1927) begleiten und Adelheid Popp in Die doppelte Bürde der Frauen (1922) für eine Anerkennung von Reproduktionsarbeit streiten hören.

Einen besonderen Dreh erhält der Band – und das muss einmal gelingen, denn mit fast 960 Seiten dreht es sich nicht leicht – durch die einfache, aber wirkungsvolle Rahmung, die im Untertitel steckt: die Zweite Wiener Moderne. Wie die Herausgeber Rob McFarland, Georg Spitaler und Ingo Zechner in ihrer konzisen wie lesenswerten Einleitung deutlich machen, ist es ihnen mit ihrer Ansage ernst: Das Rote Wien sei eine geistesgeschichtlich unterschätzte Epoche, die der ersten Wiener Moderne des Fin de Siècle nicht nachstand und eine eigene Geltung beanspruchen darf. Zwar weisen sie darauf hin, dass die Kontinuitäten zwischen erster und zweiter Moderne groß waren – Sigmund Freud und Arthur Schnitzler etwa schufen einige ihrer bedeutendsten Werke erst in den 1920er Jahren. Dennoch enthält diese These Sprengkraft, denn die Moderne des Fin de Siècle ist längst zu einem offiziellen österreichischen Identitätsanker sowie zu einer touristischen Weltmarktware geworden, mit ihr geht der Anspruch von Größe durch bürgerliche Geistigkeit einher (noch dazu in beruhigender Umarmung durch eine Monarchie). Die Zweite Wiener Moderne dagegen verband diese bürgerliche Geistigkeit mit radikalen und sozialemanzipatorischen Ansprüchen, verwies auf der Grundlage revolutionärer Erschütterungen auf Zukünfte, die auch heute wieder (oder noch immer) Teil der Diskussion sind. Nun ist seit Shmuel N. Eisenstadts Rede von den »multiplen Modernen« klar geworden, dass es eben nicht bloß eine Variante oder einen (europäischen) Ausgangspunkt der Moderne gab. Das Schlagwort der multiplen Modernen eignet sich freilich nicht nur für eine Kritik an eurozentrischen Überlegenheitsvorstellungen, sondern öffnet auch den Blick für den Umstand, dass es in Europa selbst verschiedene Varianten der Moderne gab – jene der Sozialismen ist eine davon (und diese wiederum hatte ihre eigenen Spielarten). Der vorliegende Band hilft mit seiner selbstbewussten These dabei, diese unterschätzte alternative Moderne mit dem Roten Wien sichtbarer zu machen.Das Rote Wien hat eine eigene Geschichte des Nachhalls: Heroische Erzählungen wurden insbesondere seit den 1980er Jahren einer kritischen Revision unterzogen. Zu Recht wurde zum Beispiel darauf hingewiesen, dass viele Positionen und Rhetoriken des Roten Wiens paternalistisch und auf Disziplinierung des widerspenstigen Proletariats ausgerichtet waren. Bald gab es keine kritisch-reflektierte Führung durch den Karl-Marx-Hof mehr, ohne den Hinweis, dass sich hinter der trutzigen Festung eben auch ein biederes Verständnis von kleinbürgerlichem Familienwohnen verbarg. Der 2015 verstorbene Zeithistoriker Sigfried Mattl stand für eine solche kulturhistorische Dekonstruktion des heroischen Mythos. Ihm ist zusammen mit anderen die Anfangsidee zu verdanken, eine große Textsammlung zum Roten Wien zusammenzutragen. Die für die Textauswahl der vorliegenden Sammlung Verantwortlichen gehören großenteils einer jüngeren Generation an. Zwar nehmen sie den seit den 1980er Jahren gepflegten kulturhistorischen Blick und die kritische Dekonstruktion mit (was sich an der Themenwahl insofern ablesen lässt, als die einzige wirkliche thematische Leerstelle des Bandes die ökonomischen Diskussionen des Roten Wien sind). Zugleich sind sie spürbar von einer anderen Zeit geprägt. Auch wenn daraus keine geglättete, neue heroische Erzählung wird, so finden wir in diesem Band ein Rotes Wien, das für die beteiligten Historikerinnen »zu unserer Gegenwart spricht« und eine Reihe Anregungen bereithält: Ob für die Diskussionen um Wohnungspolitik, die Recht-auf-Stadt-Bewegung, die Debatten zu Geschlechterpolitik und urbanem Raum, aber auch als Vergleichsfolie für den international beobachtbaren Trend, gerade in großen Städten emanzipatorische Antworten auf Austerität, Rassismus oder die Klimakrise zu entwickeln. Das Rote Wien ist mit beinahe fünfzig Euro kein Buch, das sich für den Kauf im Vorbeigehen eignet. Wer aber geneigt ist, einmal im Jahr mehr für ein Buch auszugeben, dem oder der sei diese reiche Textsammlung wärmstens empfohlen – man erhält ein intellektuelles Flanierbuch, das weite Wege in das erlaubt, was die Herausgeber als historischen und politischen »Möglichkeitsraum« bezeichnen.

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