»Politik ist nicht Religion«

von Tyma Kraitt

Fotos: AMBER MERRY

Der französisch-libanesische Politologe Gilbert Achcar im Gespräch über das neue Aufbegehren in der arabischen Welt und falsche Vereinfachungen in der internationalen Politik.


2922 wörter
~12 minuten

Tyma Kraitt | Eben erst hat sich der Arabische Frühling zum zehnten Mal gejährt. Seit 2018 sind erneut Aufstände in der Region ausgebrochen. Wie würden Sie diese charakterisieren?

Gilbert Achcar | Im Dezember 2018 setzte eine neue Protestwelle zunächst im Sudan ein, der dann Aufstände in Algerien, Irak und Libanon folgten. Ab 2018 kam es also in vier weiteren Staaten zu Aufständen, nachdem die Region ab 2011 schon sechs Revolten erlebt hatte, und zwar in Tunesien, Ägypten, Bahrain, Jemen, Libyen und Syrien. Das ist gewaltig und zeigt, dass wir es mit einem langfristigen revolutionären Prozess zu tun haben und nicht nur mit einem revolutionären Augenblick. Dieser Prozess hat Höhen und Tiefen, eben Phasen der Revolution und der Konterrevolution. Das geht so lange, bis es für die tiefgreifenden Probleme, die zu dieser Explosion geführt haben, eine Lösung gibt. Die Idee, dass das Volk sich erheben und einen Regimewechsel herbeiführen kann, ist trotz der Niederlagen 2013 immer noch lebendig. Und das erklärt, wie es zu einer neuen Protestwelle kommen konnte. Auch wenn sie von der Covid-Pandemie unterbrochen wurde, sie ist noch lange nicht vorbei.

TK | Wie unterscheidet sich diese zweite Welle von der ersten? Haben die neuen Bewegungen von den Fehlern der anderen gelernt, etwa in Hinblick auf das Verhältnis zur Armee, die ja weder neutrale Institution noch Verbündete ist?

GA | Ich sehe zwei wesentliche Unterschiede. Bleiben wir bei dem Beispiel der Armee: Die Sudanesen und Algerier wiederholten den Fehler der Ägypter nicht. Wir haben es bei allen dreien mit Staaten zu tun, in denen die Streitkräfte die zentrale politische Institution sind. Als die ägyptische Armee im Zuge der Massenproteste 2011 gegen Diktator Husni Mubarak vorging und dann erneut 2013 gegen die Muslimbruderschaft, hatten noch viele die Illusion, dass die Armee ihnen beistehen würde. Doch solche Illusionen hatten weder die Menschen im Sudan noch die in Algerien. Ganz im Gegenteil: Sie blieben bei ihrer Forderung nach einer zivilen Regierung. Die Leute haben verstanden, dass das Regime, das sie stürzen wollen, nicht nur aus dem Präsidenten und seiner Entourage besteht, sondern dass das Militär das Rückgrat ist.

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