Ein hoher Preis

von Karin Fischer

Illustration: Lea Berndorfer

In der Gesundheitskrise verengt sich der Blick zunehmend auf die Frage, wer wie viel Impfstoff bekommt. Indes liefern die Freihandelsordnung und das Patentrecht den globalen Süden der Pandemie aus.


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Im Jahr 2001 stimmten unter dem Eindruck der HIV-Epidemie im südlichen Afrika die Mitgliedsländer der Welthandelsorganisation (WTO) dafür, Entwicklungsländern den Zugang zu lebensnotwendigen patentgeschützten Medikamenten zu erleichtern. Dem Beschluss war ein Rechtsstreit vorausgegangen, der weltweit Empörung hervorgerufen hatte. Multinationale Pharmafirmen hatten Nelson Mandelas Südafrika geklagt, weil es das nationale Arzneimittelgesetz geändert hatte, um erschwingliche Generika zur HIV-Behandlung importieren zu können. Die Pharmaproduzenten behaupteten, zunächst unterstützt von den USA und der Europäischen Kommission, dass ein solches Gesetz gegen die Verpflichtungen zum Schutz geistigen Eigentums verstoße. Eigentumsschutz für immaterielle Güter, darunter Patente auf Medikamente, legt das TRIPS-Abkommen, genauer das »Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums«, fest. Es ist seit 1994 Teil der von der WTO getragenen neoliberalen Welthandelsordnung.

Die Doha-Erklärung von 2001 gibt nun Ländern das Recht, das TRIPS-Abkommen flexibel auszulegen. Und zwar so, dass ihr Recht auf Gewährleistung der öffentlichen Gesundheit und des Zugangs zu notwendigen Medikamenten unterstützt wird. Eine flexible Anwendung des TRIPS-Abkommens eröffnet Ländern zum Beispiel die Möglichkeit, mit einer sogenannten Zwangszulassung gegen den Willen des Patentinhabers Medikamente lokal herzustellen und sie kostengünstiger abzugeben. Entwicklungsländern, die über keine eigene Pharmaindustrie verfügen, ist es gestattet, billige Medikamente zu importieren, die in Drittländern unter Zwangslizenz hergestellt wurden. Solche Ausnahmeregelungen zielen vor allem auf erschwingliche Generika zur Behandlung von HIV/Aids, Tuberkulose, Hepatitis C oder Malaria.

Zwanzig Jahre nach der Erklärung von Doha und der Einstellung des Verfahrens gegen Südafrika unterstützen zwei Drittel der WTO-Mitglieder den Vorschlag Südafrikas und Indiens, bestimmte Verpflichtungen des TRIPS-Abkommens aufzuheben, um Covid-19 wirksam einzudämmen und zu behandeln. Denn bei einer sich schnell verbreitenden und mutierenden globalen Infektionskrankheit ist ein weitreichender Ansatz erforderlich: einer, der den Eigentumsschutz tatsächlich aufhebt und Ländern die Freiheit lässt, Forschung, Entwicklung und Produktion von Covid-19-Technologien zu betreiben, ohne Zeit mit komplexen Lizenzverhandlungen zu verschwenden und ohne Angst vor millionenschweren Klagen von Pharmafirmen haben zu müssen.

Der vorgeschlagene Verzicht würde ausschließlich für Urheberrechte, Patente und Informationsschutz in den Bereichen Prävention, Eindämmung und Behandlung von Covid-19 und nur für die Dauer der Pandemie gelten. In der jüngsten TRIPS-Ratssitzung der WTO am 10. März blockierten die reichen Länder (darunter Großbritannien, die Schweiz, die USA und EU-Länder) abermals den Vorstoß von über 80 Regierungsvertreterinnen vor allem aus dem globalen Süden, auf Patentrechte zu verzichten, um die Produktion von Covid-19-Impfstoffen anzukurbeln. Sie argumentieren, dass der Schutz geistiger Eigentumsrechte Forschung und Entwicklung fördere und Belege dafür fehlten, dass dies ein Hindernis bei der Bekämpfung der Pandemie darstellt. An solchen Belegen fehlt es aber freilich nicht.

Streit um Patentrechte

Die Macht und die Reichweite der Gesetze zum Schutz geistiger Eigentumsrechte zeigten sich in der gegenwärtigen Pandemie in zahlreichen Fällen. Italienische Forscherinnen etwa bauten auf dem Höhepunkt der Covid-Krise in der Lombardei mit einem 3D-Drucker rasch und billig patentierte Teile für defekte Ventile bei Beatmungsgeräten nach. Medienberichten zufolge drohte ihnen der Gerätehersteller mit einer Klage wegen Patentrechtsverletzung. Die Blaupausen für den Druck von Replikaten erhielten sie nicht. 

Einer der größten Maskenhersteller der Welt ist der US-Multi 3M. Die Firma hält hunderte Patente auf Maskendesigns. Als der Mangel an N95-Masken in den USA zu enormen Preissteigerungen führte, forderte ein Gouverneur das Unternehmen auf, die Patente dafür freizugeben. 3M verklagte daraufhin die Händler, die die überhöhten Preise verlangten, weigerte sich aber, Lizenzen an andere Hersteller zu vergeben und so etwas gegen die künstliche Verknappung zu unternehmen.

Nach Berichten der niederländischen Rechercheplattform Follow the Money lehnte es der französische Pharmariese Roche ab, das Rezept für eine Flüssigkeit freizugeben, die Labore in den Niederlanden für einen Corona-Test benötigten. Roche, das mit der Nachfrage nicht Schritt halten konnte, schlug der holländischen Regierung vor, die Tests einzuschränken. Infolge der öffentlichen Empörung forderte das Parlament den zuständigen Minister auf, Roche mittels einer Zwangslizenz zur Veröffentlichung der Rezeptur zu zwingen. Eine solche Maßnahme hätte allerdings ihr Ziel verfehlt. Denn die Testlösung selbst unterliegt keinem Patent, nur die Rezeptur. Erst nach Drohungen der Europäischen Wettbewerbsbehörde, eine Voruntersuchung zum möglichen Missbrauch der marktbeherrschenden Stellung des Unternehmens einzuleiten, gab Roche schließlich die Rezeptur bekannt. 

Ein zentraler Schauplatz des Streits um Patente und Eigentumsschutz ist die Suche nach Medikamenten zur Behandlung von Covid-19. Das zeigt das Beispiel des antiviralen Medikaments Remdesivir des US-Konzerns Gilead Sciences. Die USA sicherten sich unmittelbar nach der Zulassung des Medikaments im Sommer 2020 den Großteil der Weltvorräte, wie der britische Guardian berichtete, die EU-Länder den Rest. Gilead erlaubte dann die generische Herstellung. Ein erschwinglicher Zugang für alle ist damit aber keineswegs gewährleistet. Denn Gilead kooperiert zwar mittlerweile mit Generika-Herstellern in Indien, Pakistan und Ägypten, schloss aber Russland und die meisten Länder in Lateinamerika, darunter Brasilien, von einer Generika-Versorgung aus. Die begrenzte Anzahl von Herstellern hält die Preise hoch und schränkt die Produktion ein. In Indien wird das Medikament, so die Juristin und Menschenrechtsanwältin Kajal Bhardwaj, immer noch zu einem fünf- bis zehnfach überhöhten Preis verkauft.

Daten des Europäischen Patentamts enthüllen indes, dass es Hunderte von Patenten und Patentanmeldungen im Zusammenhang mit Impfstoffen gegen Coronaviren gibt. Studien zeigen, dass Patente auf Impfstoffe in der Regel extrem breit gefächert sind und Ausgangsmaterialien, Inhaltsstoffe, Prozesstechnologien, Anwendungsmethoden, Altersgruppen und Dosierungsschemata abdecken. Internationale Patentanwaltskanzleien drängen Impfstoffherstellerinnen im globalen Süden deshalb dazu, Patentrecherchen durchzuführen, bevor sie daran gehen, einen einheimischen Impfstoff zu entwickeln.

»DEM UN-KINDERHILFSWERK UNICEF ZUFOLGE ZAHLEN LÄNDER DER EUROPÄISCHEN UNION FÜR DEN OXFORD/ASTRAZENECA-IMPFSTOFF ZWISCHEN2,19 UND 3,50 US-DOLLAR PRO DOSE. BANGLADESCH MUSS DAFÜR 4, SÜDAFRIKA 5,25 UND UGANDA GAR 8,50 US-DOLLAR BERAPPEN.«

Staatliche Garantien

Viele Studien haben in den letzten Jahren die Finanzierung bei der Arzneimittelforschung und -entwicklung offengelegt. Schätzungsweise werden weltweit zwei Drittel aller Vorlaufkosten für neue Medikamente und Impfstoffe von der Öffentlichkeit getragen. Die führenden Covid-19-Impfstoffproduzenten haben alle von massiven öffentlichen Geldspritzen profitiert. Biontech zum Beispiel hat Medienberichten zufolge für den mit Pfizer entwickelten Impfstoff 375 Millionen Euro von der deutschen Bundesregierung und 100 Millionen Euro von der EU erhalten. Dazu kommen im Fall der Pandemie milliardenschwere Vorkaufsverträge der öffentlichen Hand mit Pharmakonzernen. Sie wurden abgeschlossen, bevor die Wirksamkeit des Impfstoffs feststand. Staaten garantierten den Firmen also die Abnahme, unabhängig davon, ob der Impfstoff funktioniert. Darüber hinaus haben sich Berichten zufolge Regierungen bereit erklärt, die Verantwortung für mögliche Nebenwirkungen der Coronavirus-Impfung zu übernehmen und staatliche Vermögenswerte hinterlegt, um eine Lieferung von Impfstoffen sicherzustellen. Das ist insbesondere bei Ländern, bei denen Zahlungsunsicherheit besteht, der Fall. Ärmere Länder würden, so Kajal Bhardwaj, zum Beispiel Botschaften als Sicherheit anbieten, weil diese durch Lage und Ausstattung einen Vermögenswert darstellen.

Gravierende Systemfehler

Die Sozialmedizinerin und Direktorin des Austrian Institute for Health Technology Assessment, Claudia Wild, hat selbst eine solche Studie vorgelegt. Bei einer Pressekonferenz des Vereins »Diskurs« spricht sie von »gravierenden Systemfehlern«. Sie sagt: »Wir haben ein Arzneimittelforschungs- und Entwicklungssystem, das zwar den Großteil der risikoreichen Grundlagenforschung öffentlich trägt, dann aber – ohne Konditionen – die Erkenntnisse verkauft und die Gewinne bedenkenlos privatisiert, um danach ebendiese Medikamente und Impfungen wieder einzukaufen.« Pharmakonzerne wie Pfizer schöpfen meist nur die profitabelsten Innovationen ab. Sie lassen produzieren und spezialisieren sich auf profitträchtige Produktionsabschnitte wie Marketing und Vertrieb sowie das Patentrechtmanagement.

Für eine solche Firmenstrategie steht auch AstraZeneca, das seinen Covid-19-Impfstoff in Kooperation mit der Universität Oxford entwickelt hat. Ursprünglich sollten alle mit Covid-19 zusammenhängenden Technologien, die aus der Universität Oxford hervorgegangen sind, unter nicht-exklusiven Lizenzen für jede und jeden überall verfügbar sein. Für den Impfstoff wurde jedoch eine andere Vereinbarung mit AstraZeneca getroffen. Öffentlich hat das Unternehmen erklärt, den Impfstoff »zum Selbstkostenpreis« abzugeben und »mit der Pandemie keinen Gewinn machen zu wollen«. Allerdings darf das Unternehmen auf die Herstellungskosten des Impfstoffs bis zu 20 Prozent aufschlagen – ohne offenzulegen, wie viel der Impfstoff in der Herstellung überhaupt kostet. Darüber hinaus hat sich AstraZeneca das Recht gesichert, die Pandemiephase für beendet zu erklären und sich so den Weg zu Preiserhöhungen gleich selbst geebnet.

Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) befanden sich Mitte Februar 2021 weltweit drei Viertel aller Impfdosen in nur zehn Ländern. Bis Ende Februar wurden laut WHO in Großbritannien 31 und in den USA 22 von 100 Personen geimpft. Am afrikanischen Kontinent waren es lediglich 0,3.

Dazu ist die Preisgestaltung extrem ungleich. Laut »Preisticker« des UN-Kinderhilfswerks UNICEF zahlen Länder der Europäischen Union für den Oxford/AstraZeneca-Impfstoff zwischen 2,19 und 3,50 US-Dollar pro Dose. Bangladesch muss dafür 4, Südafrika 5,25 und Uganda gar 8,50 US-Dollar berappen. Darüber hinaus reicht die Produktionskapazität nicht aus. Der quälende Mangel an dem derzeit günstigsten Impfstoff ist offenbar eine Folge davon, dass das Unternehmen zu wenige »Unterlizenzen« für die Produktion vergibt. Transparenz bei Herstellungskosten und den globalen Geschäften gibt es keine.

Ein internationales Programm, die sogenannte Covax-Fazilität, will unter Leitung der WHO Länder mit niedrigen und mittleren Einkommen mit Impfstoff versorgen und durch weitere Gelder die Entwicklung und Herstellung von Impfstoffen beschleunigen. Das soll einen fairen und gerechten Zugang für jedes Land der Welt gewährleisten. WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus beklagte, dass wohlhabendere Länder Covax umgehen, indem sie Dutzende von bilateralen Verträgen mit Herstellern abschließen. Das treibt die Preise in die Höhe und verzögert möglicherweise die Covax-Lieferungen. Keiner der führenden Covid-19-Impfstoffproduzenten beteiligt sich am Technologiepool, dem sogenannten Covid-19 Technology Access Pool, kurz C-TAP, den die WHO auf Vorschlag von Costa Rica eingerichtet hat. Damit soll Wissen über Covid-Technologien gebündelt und veröffentlicht werden. Unter den 40 Ländern, die der Initiative beigetreten sind, sucht man reiche Länder mit der Lupe. Nur Belgien, Luxemburg, Norwegen, Portugal und die Niederlande sind mit dabei.

Das private, patentbasierte und profitorientierte System ist kontraproduktiv. Es verlangsamt die Entwicklung von Impfstoffen und behindert effektive Massenimpfkampagnen. Darüber hinaus verleitet es dazu, dass Unternehmen ihre Ergebnisse voreinander und vor der wissenschaftlichen Öffentlichkeit geheim halten. Und es setzt perverse Anreizstrukturen: Eine Krankheit völlig auszubremsen, ist schlecht fürs Geschäft. Anstatt Impfstoffentwicklungsprogramme unter öffentliche Kontrolle zu stellen oder gesetzliche Vorgaben zu treffen, um den Austausch von Know-how zu ermöglichen und die Produktion zu steigern, treten reiche Länder im Wettlauf um verfügbare Dosen gegeneinander an, horten Impfstoffe und erlassen Exportbeschränkungen.

In den vergangenen Monaten hat sich die People’s Vaccine Alliance – eine transnationale Bewegung für einen Volksimpfstoff – formiert. Oxfam, UNAIDS, Global Justice Now, die globale Dienstleistungsgewerkschaft und viele mehr fordern einen erschwinglichen und frei verfügbaren Impfstoff für alle, überall: »We need a people’s vaccine, not a profit vaccine.« Eine Europäische Bürgerinitiative wiederum will Gesundheit zu einem globalen öffentlichen Gut machen. Alternative Modelle zur Arzneimittelentwicklung, wie sie etwa Claudia Wild propagiert, sehen transparente Ausschreibungen vor, an denen sich Pharmafirmen beteiligen können. Am Ende der einzelnen Entwicklungsschritte soll das Medikament als öffentliches Gut der Allgemeinheit gehören und an verschiedenen Orten weltweit produziert werden. Die Aussetzung der TRIPS-Bestimmungen wäre ein erster Schritt. Beim nächsten Ratstreffen am 8. und 9. Juni haben die reichen Länder dieser Welt die Möglichkeit dazu.

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