Der Werbefachmann muss weg

von Benjamin Opratko

Illustration: Lea Berndorfer

Staatsanwälte und Gerichte werden die Ära Kurz nicht beenden. Doch der Kanzler könnte tatsächlich scheitern.


975 wörter
~4 minuten

Eine knappe Stunde, bevor die Polizei die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Protestmärsche am 1. Mai aus dem Wiener Votivpark prügeln sollte, fiel mir das T-Shirt einer jungen Frau auf, auf dem »I Love WKStA« stand, im Stil des »I Love NY«-Logos gestaltet. »I Love WKStA«, dachte ich mir, ist irgendwie weniger schmissig als »Kurz muss weg!«, obwohl es doch das Gleiche meint.

Diese linke Liebesbekundung an die WKStA, die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft, sollte nicht die einzige bleiben. Aktivistinnen der Wiener Partei Links sprühten wenige Tage später »WKStA kriegt euch alle« auf das Trottoir vor der ÖVP-Bundeszentrale. Die türkisen Funktionärinnen und Pressesprecher mussten darüber hinwegschreiten – auf ihrem Weg zur nächsten Pressekonferenz, in der sie erklärten, dass die Vorwürfe gegen Sebastian Kurz, Finanzminister Gernot Blümel und andere Spitzen der konservativen Regierungspartei haltlose Beschuldigungen seien. Die WKStA blieb von den Beteuerungen unbeeindruckt. Am 12. Mai gab sie bekannt, dass sie Kanzler Kurz und seinen Kabinettschef Bernhard Bonelli als Beschuldigte in einem Strafverfahren führt. Kurz steht unter Verdacht, die Wahrheitspflicht in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss verletzt zu haben, der Strafrahmen beträgt drei Jahre Haft.

Schafft am Ende die Justiz, was Oppositionsparteien und -bewegungen nicht hinbekommen haben, und beendet die Ära Kurz? Noch spricht nicht viel dafür. Der Kanzler hat nach einigen Kommunikationswacklern wieder in die Spur gefunden. Ein Verfahren ist keine Anklage, verlautbart er, eine Anklage keine Verurteilung, und selbst eine Verurteilung wäre noch lange kein Grund für ihn, zurückzutreten. Diese Strategie ist riskant. Sie droht traditionelle Konservative, denen Rechtsstaat und Gewaltenteilung teuer sind, zu verprellen. Aber das Vorgehen ist immerhin konsequent, und es klärt die Sicht. Unter Druck wird der Kern des Projekts Kurz zur Kenntlichkeit verdichtet, treten seine Kanten und Widersprüche so offen zutage wie noch nie seit der türkisen Machtübernahme in der ÖVP vor vier Jahren.

Sebastian Kurz ist 2017 angetreten, seine spezifisch österreichische Lösung für ein globales Problem konservativer Parteien anzubieten. Diese Parteien sind dafür da, die Interessen ökonomisch mächtiger Minderheiten in staatliche Politik zu übersetzen. Dafür brauchen sie Mehrheiten bei Wahlen. Historisch war es die Mission der Konservativen, die im Kapitalismus angelegte Dynamik der »schöpferischen Zerstörung« (Schumpeter), in der »alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige entweiht wird« (Marx), in den ideologischen Wattebausch von Nation, Familie und – in Österreich nach 1945 – Sozialpartnerschaft zu verpacken. Das ging so lange gut, als der globale Kapitalismus hierzulande ausreichend Mehrwert abwarf, um sowohl die Profiterwartungen des Kapitals als auch die sozialen Aufstiegserwartungen der Lohnabhängigen einigermaßen zu bedienen. Damit ist es schon einige Zeit vorbei. Die Renditeerwartungen steigen, Reallöhne stagnieren und für sozialpartnerschaftliche Pazifizierung des Klassenkampfs sieht die Kapitalseite keine Notwendigkeit mehr. Was sie stattdessen braucht, sind Werbeagenturen, die ihre Interessen so verkaufen, dass der Staat dafür sorgen kann, die Geschäfte am Laufen zu halten.

Sebastian Kurz und seine Seilschaft aus Unternehmensberatern, Juristinnen und Presseleuten dienten sich seit Mitte der 2010er den ökonomisch mächtigen Minderheiten des Landes als neue, effektivere Vertretung an und putschten mit deren Unterstützung gegen die alte ÖVP-Führung. Unbeschwert von jedem eigenständigen Gestaltungswillen konzentrierten sie sich ganz auf die Kunst des Verkaufens. Sebastian Kurz kraulte der Medienelite so lange die Chefredakteurs-Goder, bis diese ihn ganz freiwillig zum größten Polittalent seit Bruno Kreisky erklärte. Wer das Talent nicht erkennen wollte, erhielt die Bad-Cop-Sonderbehandlung seines Adjutanten Gerald Fleischmann (der schon mal mitten in der Nacht bei Journalisten am Telefon Sturm klingelt, um sie zurechtzustutzen).

»SEBASTIAN KURZ WIRD NICHT AN DER WKSTA SCHEITERN, SONDERN NUR DANN, WENN JENE, DIE IHN ENGAGIERT HABEN, SEINE DIENSTE NICHT MEHR SCHÄTZEN.«

Ideologisch blieb man geschmeidig und folgte den Ratschlägen der Meinungsforscher und Fokusgruppen-Gurus. Das Volk will Schikanen gegen Asylanten, Muslime und andere Fremdlinge? Das trifft sich gut, der Wahlkampf 2017 wird auf Rechtsaußen gebürstet und die Koalition mit der Strache-Kickl-FPÖ aufgesetzt. Nach Ibiza und Fridays for Future entsteht Sehnsucht nach Sauberkeit in Politik und Umwelt? Vorhang auf für die erste konservativ-grüne Regierung, nun werden »Grenzen und Klima geschützt«. Wirklich wichtig ist etwas anderes: dass jene, die ehedem in das Projekt Kurz investiert haben, auf ihre Kosten kommen. Das passierte überwiegend ganz legal: Zwölfstundentag, Umbau der Krankenkassen, Abschaffung der Mindestsicherung – die im türkis-grünen Regierungsprogramm verankerten Steuersenkungen hat bislang nur die Pandemie aufgeschoben. Die Skandale, die Kurz und Co nun um die Ohren fliegen, sind bloß Nebengeräusche einer politischen Agenda, die von vorne bis hinten darauf ausgelegt ist, unter demokratischen Bedingungen die Interessen des österreichischen Industrie- und Finanzkapitals durchzusetzen. Das der ÖVP zum Vorwurf zu machen, wäre wie dem Grizzlybären seinen Lachskonsum vorzuhalten.

Sebastian Kurz ist kein Staatsmann. Er ist Werbefachmann. Er wird auch nicht an der WKStA scheitern, sondern nur dann, wenn jene, die ihn engagiert haben, seine Dienste nicht mehr schätzen. Das kann auf drei Weisen passieren. Erstens, wenn die ökonomisch mächtigen Minderheiten draufkommen, dass sie in Zeiten einer schweren globalen Krise keinen Werbefachmann brauchen, sondern einen weitsichtigen Lenker. Die EU stellt gerade – ebenso wie die USA, Großbritannien und China – die Weichen für den großen Post-Corona-Wiederaufbau. Andere EU-Länder nützen den Europäischen Aufbauplan, das über EU-Anleihen finanzierte größte Konjunkturprogramm aller Zeiten, um in ökologische Modernisierung und digitale Infrastruktur zu investieren. Die österreichische Bundesregierung ruft die Mittel ab, um Tunnelbauprojekte zu finanzieren und Autobusflotten zu erneuern. Das gefällt den längerfristig denkenden österreichischen Kapitalisten nicht sonderlich. Zweitens, wenn die bislang loyalen ÖVP-Landeshauptleute ihre eigenen Mehrheiten gefährdet sehen, weil das Heer von Dilettanten um Kurz nicht in der Lage ist, technischen Mindesterfordernissen – Zahlen addieren, Rechtsnormen befolgen, illegale Absprachen nicht verschriftlichen – zu genügen. Und drittens, wenn Sebastian Kurz die einzige Ware nicht mehr liefern kann, die er seit 2017 in seinem Bauchladen anbietet: eine Regierungsmehrheit auf Bundesebene.

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