La La Land oder: Grün war die Hoffnung

von Karsten Krampitz

Illustration: Lea Berndorfer

In der türkis-grünen Regierung unter Sebastian Kurz und Werner Kogler sehen manche ein Menetekel für die deutschen Verhältnisse nach den Bundestagswahlen im Herbst. Ein Ländervergleich.


2377 wörter
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Demoskopen sehen Deutschland kurz vor dem Regierungswechsel. Auf jeden Fall mit dabei: die Grünen, obgleich die Basis hie und da noch Bauchschmerzen hat mit dem Wort Deutschland. Aber das wird sich legen. Freuen wir uns schon jetzt auf die Bild-Schlagzeilen der nächsten Monate: »Huch! Benzin wird teurer! Urlaub nur noch mit dem Fahrrad?« Oder: »No more Veggie-Day! Lehrer und Schüler sind sich einig.« Das verlangt die Tradition; so war es immer vor den Bundestagswahlen. Irgendein Kracher wird kommen, ganz bestimmt. Der grüne Kreisverband Berlin-Neukölln wird in einem Papier Nachsicht für die Scharia zeigen. Und zack! Bild titelt: »Nur ein Gerücht? Steinigungen werden nach Geschlechtern quotiert.« – Und das wäre wohl das Mindeste! Alles andere wäre Diskriminierung. Und weil die Sonne der Kultur tief steht, werfen auch die Zwerge bei den Grünen lange Schatten.

Nach dem Wahltag am 26. September wird von der deutschen Sozialdemokratie nicht mehr viel übrig sein, und noch weniger von der Partei Die Linke. Womöglich wird ihre Fraktion auf ein Fahrrad passen, auf dem dann auch Gesine Lötzsch sitzt, die den Wahlkreis Berlin-Lichtenberg souverän gewonnen haben wird. Ansonsten dürfte die Linkspartei an jenem Sonntag ihre Kernwählerschaft verloren haben, die kulturelle Entfremdung von den Unterschichten, von den »kleinen Leuten«, ist lange schon überdeutlich. Am Habitus der Schreibtischlinken ändert kein Programm etwas und auch kein noch so witziger Wahlwerbespot. Wie sollen Menschen glauben, dass Die Linke sie versteht, wenn ihre Mandatsträgerinnen und Funktionäre eine komplett andere Sprache sprechen? Alte weiße Cis-Männer, die um ihren Job bangen oder diesen längst verloren haben, wählen keine Partei, die sie beleidigt und umerziehen will. Am Ende werden sie das eine Prozent sein, das fehlt, auch weil die Lifestyle-Linke vom Prenzlauer Berg für Annalena Baerbock gestimmt hat. So ein historischer Moment kommt schließlich nie wieder!

Doch weil die Grünen es bisher noch immer kurz vor der Ziellinie verkackt haben, wird später in den Sondierungsgesprächen alles auf ein schwarz-grünes Bündnis hinauslaufen, mit Baerbock als Vizekanzlerin. – Ein ähnliches Projekt also wie derzeit in Österreich? In der türkis-grünen Regierung unter Sebastian Kurz und Werner Kogler sehen manche ein Menetekel für die deutschen Verhältnisse im Herbst. Tatsächlich?

So viel vorweg: Wenn zwei das Gleiche tun, wird es nicht automatisch dasselbe. Die Christlich Demokratische Union (CDU), wie sie viele Jahre von Angela Merkel geführt wurde, ist nicht die ÖVP. Im politischen Spektrum steht sie lange nicht so weit rechts. Der berühmte Satz der Kanzlerin »Wir schaffen das« fand 2015 bei einer (womöglich sehr breiten) Mehrheit der CDU-Mitglieder Zustimmung. Der bisher letzte Versuch, ÖVP-Verhältnisse auf die Union zu übertragen, ist missglückt. Markus Söder, bayerischer Ministerpräsident, ist unlängst mit dem Projekt gescheitert, die Parteigremien nach Wiener Vorbild zu gestalten respektive zu demontieren. Der Kanzlerkandidat von CDU/CSU heißt Armin Laschet.

Und auch die Grünen in Deutschland sind aus anderem Holz geschnitzt als die Geschwister in Österreich. Ihre erste Regierungsbeteiligung auf Bundesebene, in den Jahren 1998 bis 2005, mag in Vergessenheit geraten sein. Das »Reformbündnis« unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer hat den Sozialstaat zertrümmert (Stichwort Hartz IV) und mit der Bombardierung Belgrads 1999 den ersten deutschen Angriffskrieg seit ’45 zu verantworten. Und damit zurück zur Metapher: Das Holz, aus dem die Piefke-Grünen geschnitzt sind, ist faulig, morsch und stinkt zum Himmel. Verglichen damit stehen die Grünen in Österreich recht gut da. Doch die Zukunft verheißt ihnen nichts Gutes. Die jüngere Vergangenheit auch nicht. Beim Eintritt in die Regierung Kurz II sind die Grünen schon umgefallen, noch bevor sie wer geschubst hat.

Ich erinnere mich noch gut an den Spätsommer 2017. Ich war zu Besuch in Klagenfurt und schaute mir bei der Gelegenheit eine Wahlkampfveranstaltung der Grünen an, speziell für junge Wähler. Leider betrat ich das Stadthaus mit gehöriger Verspätung, aber immer noch rechtzeitig genug, um mir im Kleinmayr-Garten mit hundert oder mehr Jungwählerinnen auf der Wiese La La Land anzuschauen, ein Hollywood-Musical. Den Grünen geht’s gut, dachte ich. Immerhin die Partei, die den Bundespräsidenten stellte! Einige Aktive waren mir noch bekannt von der Landtagswahlparty 2013 im Napoleonstadl, als sie mit Rolf Holub, dem Hypo-Skandal-Aufklärer, über 12 Prozent geholt hatten, während die Blauen weit mehr als 28 Prozent verloren hatten. Hat es das jemals gegeben, dass eine rechte Partei in freien Wahlen derart abgestürzt ist? Dementsprechend fiel auch der Umtrunk aus. An jenem Abend habe ich die Grünen geliebt. Alle waren glücklich, lagen sich in den Armen, waren hackevoll. Aber ein jegliches hat seine Zeit.

Im Sommer 2017 war alles anders, wie nach einer Zeitenwende, einem Klimawandel. In Kärnten und Österreich, in ganz Europa war es kälter geworden. Die angebliche Flüchtlingskrise hatte die Gedankenwelt der Leute massiv verändert. Und zwar nicht zum Guten. Leute, von denen man es nie gedacht hätte, redeten wirres Zeug über illegale Masseneinwanderung und »Umvolkung«. Auch in Klagenfurt. Für Parteien wie die Grünen, nennen wir sie links, gab es nichts mehr zu gewinnen – nur zu verteidigen: ihre Mandate in den Parlamenten, aber auch die Grundrechte. Pressefreiheit, Demonstrationsrecht, das Recht auf Asyl – all das wurde und wird von der Rechten radikal infrage gestellt. Was aber tun die Klagenfurter Grünen? Sie schauen La La Land. (Nichts gegen Kino. In Berlin haben wir im Wahlkampf immer die »LINKE Kinonacht« – mit Musik von den Toten Crackhuren im Kofferraum, promibesetzten Diskussionsrunden und Filmen wie Kuhle Wampe oder Land and Freedom oder Wem gehört die Stadt?. Es soll rocken. Und ein bisschen Elektropunk schadet nie. Bands wie die Crackhuren haben keinen intellektuellen Anspruch. Wer dazu aber Pogo tanzt, ist für die AfD verloren. Und genau darum geht’s bei der Filmauswahl: Die Schnarchnasen der »Generation Y« sollen ein Gefühl bekommen von linker Identität.)

Die Grünen in Deutschland und Österreich tragen zwar den gleichen Namen, sind aber bei weitem nicht dieselbe Partei. Die deutschen Grünen blicken auf eine andere Geschichte zurück. Sie stammen nicht nur aus den Neuen Sozialen Bewegungen, die irgendwann von trotzkistischen Lesezirkeln unterwandert wurden – in Westdeutschland und Westberlin haben sie ihre Wurzeln auch in der Hausbesetzer- und Anti-AKW-Bewegung der Achtzigerjahre. Kreuzberg und Brokdorf waren Meilensteine grüner Geschichte, will heißen: Die deutschen Grünen hatten in ihrer Vergangenheit mitunter wirklich harte Auseinandersetzungen durchzustehen.

Der Einzug der Grünen bei den Neuwahlen zum Bundestag 1983 markiert eine historische Zäsur. In der deutschen Nachkriegsgeschichte waren sie die erste Parteineugründung, die den Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde schaffte. Dabei waren die Grünen erst drei Jahre zuvor formal gegründet worden. Und zwar nicht als Partei im herkömmlichen Sinne: als Abspaltung einer bereits existierenden Partei oder weil einzelne politisch interessierte Bürger sich zu einem Thema parteipolitisch organisierten. Die Grünen waren bei ihrer Gründung, wie es der Politologe Gert-Joachim Glaeßner im Rückblick konstatiert, eine »Bewegungspartei neuen Typs«. Eine bundesweite Plattform der Bürgerinitiativen und kommunalen Wählervereinigungen, die ehedem Positionen vertraten, die nicht nur unterschiedlich waren, sondern bisweilen diametral entgegengesetzt. Im Jahr 1980 löste die Bundespartei ihren Westberliner Landesverband auf, weil der unter rechtsradikale Kontrolle geraten war. Wiglaf Droste fragte einst: »Wie denken die Ökofaschisten bei den Grünen über Adolf Hitler?« Antwort: »Beim Führer war nicht alles schlecht. Die Autobahn aber, die hätte er nicht bauen dürfen.« Die Ökopaxe, wie man die Grünen früher nannte, bildeten in ihren Anfangsjahren ein bizarres Konglomerat. Hier trafen völkische Ökobauern auf Umwelt- und Friedensaktivistinnen, der ehemalige Studentenführer Rudi Dutschke auf den noch für die CDU in den Bundestag gewählten Herbert Gruhl.

Alles in allem waren die Grünen ein spannendes Projekt. In ihren Reihen stritten sich Hippies mit Feministinnen, Kommunisten mit Anarchisten und Pazifistinnen, Tierschützer mit Naturfreunden. Themen wie Klimawandel, Waldsterben und vor allem die Gefahren der Atomkraft brachten die Grünen aus der Opposition heraus in den politischen Diskurs. Die Grünen damals im Programm: ökologisch, sozial, basisdemokratisch und gewaltfrei.

Und die Grünen in Österreich? Die Geschichte der Anti-Atomkraft-Bewegung ist hier etwas komplizierter als bei den Piefkes, aber auch kürzer: Anno ’78 warb die regierende SPÖ für die Inbetriebnahme des gerade gebauten Atomkraftwerks Zwentendorf, ließ aber einen Volksentscheid zu, den die AKW-Gegner (unter ihnen auch die FPÖ!) für sich entschieden. Seither gibt es in Österreich keine AKWs. Für diesen historischen Erfolg aber hat es die Grünen als Partei gar nicht gebraucht.

Die Grünen in Österreich sind nicht schlechter als ihr deutsches Pendant – sie sind dümmer. Denn bei allem, was man den deutschen Grünen vorwerfen mag, sie wären nie so dämlich, in der Regierung so etwas wie den »koalitionsfreien Raum« zuzulassen. Oder sich den Lebensfaden selbst zu kappen, wie die Schwesterpartei in Österreich, die ihren Jugendverband aus der Partei geworfen hat, und zwar im Wahljahr! Bislang ist bei den Grünen in Deutschland noch aus jedem Revoluzzer irgendwann ein Realo geworden, vorausgesetzt er oder sie blieb Mitglied der Partei. Wie die anderen Parteien auch, reproduzieren sie sich heutzutage aus sich selbst heraus. Der Nachwuchs wird aufgezogen und aufgebaut. Der Grünen Jugend (»jung. grün. stachelig.«) wird eine gewisse Eigenständigkeit zugebilligt; Remmidemmi gegen die Alten gehört dazu. Die Piefke-Grünen sind heute generationsübergreifend ein Karriere- und Erwerbsversprechen, das zieht! Selbst bei größtem Streit käme niemand auf die Idee, die ganze Parteijugend auszuschließen. Claudia Roth, ehemalige Grünen-Spitzenfrau, stammt aus einem Jugendverband, der sich von seiner Mutterpartei getrennt hat. Die Jungdemokraten verließen 1982, nach dem Ende der sozialliberalen Koalition, die Freie Demokratische Partei (FDP) und blieben als parteiunabhängiger Jugendverband noch Jahrzehnte bestehen. Ich selbst war dort viele Jahre Mitglied. Die Jungdemokraten waren ein Jungbrunnen für andere Parteien. Im Bundestag findet man heute in vier Fraktionen ehemalige »Judos«, bei FDP, SPD, Grünen und vor allem in der Linkspartei.

Und dann ist da noch Peter Pilz. Die Geschichte der Grünen in Deutschland ist eine Geschichte von Alphatieren: Joschka Fischer vorneweg, Jürgen Trittin und andere. Vor langer Zeit gehörte auch eine Petra Kelly dazu, die »Fundis« Jutta Ditfurth, Thomas Ebermann, Rainer Trampert, die Heulsuse vom »Grünen Aufbruch« namens Antje Vollmer – bis auf die Letztgenannte alles charismatische Persönlichkeiten, die Journalisten heute bei den Grünen vermissen. (Unlängst haben zwei Funktionäre die Kanzlerkandidatur unter sich ausgemacht, wie langweilig.) Einen Peter Pilz aber hat es bei den deutschen Grünen nie gegeben. Pilz, der Jahrzehnte dem Parlament angehört hat, eines Tages bei der Listenaufstellung nicht mehr bedacht wurde und daraufhin die eigene Partei zerlegte! Bei Bündnis 90/Die Grünen (so der offizielle Name, seit 1993 die Bürgerbewegung der alten DDR hinzukam) hat es über die Jahrzehnte viele Austrittswellen gegeben: die Ökoanarchisten, die Ökosozialisten, die Grünkonservativen (heute Ökologisch-Demokratische Partei) und nicht zu vergessen die Ökologische Linke um Jutta Ditfurth, die heute immerhin zwei Sitze im Stadtparlament von Frankfurt am Main hat. All diese Abspaltungen aber waren primär die Folge schwerer inhaltlicher Auseinandersetzungen. Der Pilz-Konflikt drehte sich um ein lumpiges Mandat für den Nationalrat! Der Mann hat es sogar noch geschafft, seine dann neue Partei ins Nirwana zu führen. – Selbst bei einem Joschka Fischer wäre ein solcher Egotrip undenkbar gewesen, gleichwohl seine Inszenierung nicht weniger narzisstisch war: Joschka Fischer hat zu allen Zeiten an seiner Basis gelitten. Augenbrauen hoch, die Stimme gequält: »Meine Generation hat gelernt …«

Das eigentliche Martyrium des Joschka Fischer begann aber 1998, mit seinem Amtsantritt als Außenminister und Vizekanzler. Jutta Ditfurth, die ehemalige Bundessprecherin, sagte schon vor Jahren: »Dass die Grünen einmal eine Partei der sozialen Ungleichheit werden und die ökonomischen Interessen eines Teils der mittleren und gehobenen Mittelschicht sowie der Reichen gegen die sozial Schwächeren verteidigen würden, lag außerhalb unserer Vorstellung.« Bündnis 90/Die Grünen sind eine staatstragende Partei geworden, nur ist es leider nicht der Sozialstaat, dem ihre Liebe gehört. Das System Hartz IV, das die einstige »Bewegungspartei« mitzuverantworten hat und das dem Jobcenter die Möglichkeit gibt, die Leistungen willkürlich zu kürzen, versetzt heute Hunderttausende Menschen in permanente existenzielle Angst.

Und sonst? Kaum an der Macht, warnte die Grünenspitze die eigene Basis davor, an den Protesten gegen die Castor-Transporte teilzunehmen. Auslandseinsätze der Bundeswehr gelten heute als normale Fortsetzung der Politik. Der Luftangriff nahe dem afghanischen Kundus im September 2009 mit etwa hundert zivilen Todesopfern, darunter viele Kinder, war »nur« ein Kollateralschaden. Überhaupt saßen die Grünen zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr am Berliner Kabinettstisch …

Außenminister a. D. Joschka Fischer, ehedem Sponti und Taxifahrer, profitiert heute in seiner Grunewald-Villa vom niedrigen Spitzensteuersatz, den seine Regierung einst beschlossen hat. Er tritt als hochbezahlter Redner und »Berater« der Autoindustrie auf beziehungsweise als Senior Strategic Counsel der Albright Stonebridge Group, der Beratungsfirma der ehemaligen US-Außenministerin Madeleine Albright. In der Lobbyistenbranche ist Fischer nicht der einzige ehemalige grüne Spitzenpolitiker. Erwähnt sei nur die Bundestagsabgeordnete Marianne Tritz, die es nach der Politkarriere bis zur Geschäftsführerin des Deutschen Zigarettenverbands (DZV) gebracht hat. Oder Matthias Berninger, der noch als Staatssekretär im grünen Verbraucherministerium für gesunde Ernährung bei Kindern geworben hat und nun beim Schokoriegelfabrikanten Mars unter Vertrag steht, als Director Corporate Health and Nutrition. – Als die einstige Grünenvorsitzende und Klubobfrau im Nationalrat Eva Glawischnig 2018 beim Glücksspielkonzern Novomatic anheuerte, war das in Österreich noch ein Skandal. Bei den deutschen Grünen, die damit den abgewählten Politikern von SPD, CDU und FDP nacheifern, gilt ein solcher Karriereweg inzwischen als normal.

Das gegenwärtige Umfragehoch haben die deutschen Grünen weniger ihrer Politik zu verdanken, schon gar nicht ihrem Programm – Menschen wählen keine Programme, sondern Erzählungen. Die Linkspartei hatte einmal eine Erzählung, ein Modell von einer Zukunft, einer Gesellschaft in Frieden und sozialer Gerechtigkeit. Gegenwärtig profitieren die Grünen vom Narrativ der drohenden Klimakatastrophe. Doch: »Was man auch baut – es werden stets Kasernen«, lesen wir bei Erich Kästner. »Kennst du das Land, wo die Kanonen blühn? […] Dort reift die Freiheit nicht. Dort bleibt sie grün.«

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