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Zu meinen frühesten Erinnerungen gehört der erste Eindruck einer Stimmung. Ich muss vier Jahre alt gewesen sein. Wir wohnten in einer der vielzähligen Legebatterien, wie sie an den Rändern Belgrads häufiger anzutreffen sind. Zwar üppig in ihrer Aufmachung boten diese Blocks neben geräumigeren, stets für höhere Offiziere der Jugoslawischen Volksarmee und ehemalige Partisaninnen und Partisanen bereitgestellte Wohnungen weiteren Lebensraum, der in der Umschreibung Schuhkarton sein trauriges Äquivalent findet. Ein kleines Zimmer mit separater Küche und einem Bad für eine vierköpfige Familie. Fünfzig solcher Wohnungen auf einem Stockwerk, der Bau selbst fünfzehnstöckig. In der Hierarchie eines sozialistischen Jugoslawiens hieß das: Beamtenwohnung.
Mein Großvater, Aleksandar Dinić, hatte nach seinem treuen Dienst (auch er ein spätberufener Partisane und Zollbeamter) und einem jahrelangen, zermürbenden Tauziehen mit den Behörden diese Wohnung letztlich zugeteilt bekommen. Was ihm laut Heilsversprechen jener solidarischen Gemeinschaft an Quadratmetern zugestanden hätte, vermag ich aus heutiger Sicht nicht zu beurteilen. Mein Großvater soll – obzwar wie viele Männer damals verschlossen und streng – ein genügsamer Mensch gewesen sein.
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Ich komme über den ironischen Einwurf nicht hinaus, wenn über das sozialistische Jugoslawien die Rede sein soll – und die Kriege, die diesem Staat beinahe schrittgenau gefolgt waren. Der Einschätzung einiger, mitunter aus dem linken Spektrum kommender Beobachter, Jugoslawien sei, alles in allem, historisch anders zu bewerten als stalinistische Satelliten wie Rumänien, Ungarn oder Bulgarien zur selben Zeit, halte ich, ein aus dem linken Spektrum kommender Beobachter, die Worte Milovan Đilas’ entgegen, der, ganz in demokratisch-sozialistischer Manier einer Rosa Luxemburg etwa, in genau jenem System, das er gemeinsam mit Tito und der Partei aus der Asche eines Bürgerkriegs hob, das dunkle Los jeder (proletarischen) Gemeinschaft sah, die allzu sehr auf große Vaterfiguren vertraute denn auf ihren eigenen revolutionären Eifer. Statt Kommunismus stand die Diktatur ins Haus, und die proletarischen Kräfte sowie die Partisanen von gestern verwandelten sich alsbald in eine rote Bourgeoise (im letzten Halbsatz verzichte ich auf das Gendern, weil unmittelbar nach dem Krieg vielen der über 75.000 Frauen, die an der Waffe gedient hatten – über 25.000 kamen bei den Kämpfen ums Leben –, schnell klar wurde, dass sich an den vorsozialistischen, patriarchalen Verhältnissen – Wahlrecht hin oder her – wenig ändern würde. 1953 wird die AFŽ, die 1942 gegründete und im jungen sozialistischen Staat sehr einflussreiche Antifaschistische Frauenfront, mit der Begründung, die Emanzipation der Frau schreite viel zu schnell voran, aufgelöst).
Eine neue Klasse entsteht, welche die Wahrheiten des historischen Materialismus nicht dynamisch-dialektisch, sondern starr-leninistisch für die eigenen Zwecke auslegt.1 Vor diesem Hintergrund mutet die Arbeiterselbstverwaltung – vielgerühmte Auszeichnung des sozialistischen Systems jugoslawischer Prägung – wie ein dünnes Lippenbekenntnis an. Das Streben nach Macht und eben nicht das Vorantreiben von dessen Abbau steht im Vordergrund dieser neuen Elite, aber auch der Enttäuschung ehemals aufrechter Kämpferinnen und Kämpfer für eine kommunistische Utopie, die mit ihrer Abkehr von der Parteilinie zu Geächteten wurden.
Seinem Gebaren nach ganz Straußenkönig richtet sich Josip Broz Tito als schillernde Figur in der Mitte dieses Systems ein, das nach außen hin jeglichem Widerspruch standzuhalten verspricht (der Bruch mit Stalin 1948, das Umerziehungslager Goli otok, die Studentenproteste 1968, der kroatische Frühling 1971, die Verfassungsänderung 1974, der Tod Titos selbst 1980).
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Ich möchte mir bei meinen Ausführungen eine »serbische« Perspektive auf die im Folgenden beschriebenen Passagen vorbehalten. Nicht um der Korrektheit einer meiner »Ethnie« entsprechenden Bewertung willen, sondern vielmehr wegen der Konkretheit einzelner Bilder, die sich mir – über diesen Themenkomplex nun gute zwölf Jahre brütend – beinahe zweideutig aufdrängen. Diese Bilder stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit meinem Aufwachsen in Serbien (Familie, Bildung, Umgebung usf.) sowie mit dem Glück, zu späten Einsichten gekommen zu sein, die meinen eigenen Vorurteilen den fruchtbaren Boden so weit entzogen, dass mir der Nationalismus zum Unwort wurde, an dem ich meine Weltsicht täglich wetze.
Daher möchte ich das Beiwort »serbisch« nicht als jenen Punkt verstanden wissen, in dem sich noch das widerlichste Klischee zu einer (westlichen) Meinung festigt (genozidal, nationalistisch, kulturfern usf.), sondern als Möglichkeitsraum, in dem die Aussicht auf eine versöhnende Geste keiner Utopie gleichkommt (ob die Leserinnen und Leser wissen, dass seit Beginn des Krieges 1991 bis in die 2000er Jahre hinein Hunderttausende Serbinnen und Serben gegen ebenjenes Massenschlachten auf die Straße gegangen waren?!2).
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Meine Geburt im Jahre 1988 fällt in die Zeit eines zwischen Aufbruch und Einkapselung changierenden Widerspruchs. Auf der einen Seite: graue Apparatschiks mit dem Charme einer kaputten Glühbirne; nationalistische Hetzer aller Couleur, die seit dem Tod des obersten Staatsschlossers den jeweils anderen in Ruchlosigkeit zu übertreffen suchen; ein Beamtendschungel, dem der Zentrismus wieder einmal (erinnern wir uns an das gleichnamige Königreich sieben Jahrzehnte zuvor!) das Genick zu brechen droht; ein reformbedürftiges System, dem die westlichen Gönner – (wider)willige Unterstützer der blockfreien Denke Jugoslawiens im Kampf gegen rote Geister – den Geldhahn abgedreht haben; eine Inflation, die aus Erspartem Trinkgeld zaubert und den Unmut der Menschen täglich nährt; ein Jahrzehnt lang Proteste auf dem Kosovo; SANU-Memorandum; die Antibürokratische Revolution.
Auf der anderen Seite (gerade so, als handele es sich um die andere Straßenseite, die eine gänzlich andere Richtung einzuschlagen sich bequemt – vielleicht eine Querstraße, die erstere schneidet? – und sich dem peripheren Sichtfeld derjenigen, die auf dem Trottoir gehen, entzieht): eine Generation der Aufmüpfigen, ihre Sinne getrimmt auf eine gesellschaftliche Erneuerung von innen; Institutionen, Vereine und Gruppen, die Antworten auf den sich immer mehr zuspitzenden Hass suchen; progressive Köpfe in den Bereichen Kunst, Musik, Literatur, Film, Philosophie; junge Menschen, die ein zweites Jugoslawien imaginieren, jenseits des Status quo eines erstarrten Apparats; Künstlerkollektive wie Neue Slowenische Kunst, die mit ihren Provokationen auf den autoritären Impetus des Staates aufmerksam machen; Filme von Đorđe Kadijević, Želimir Žilnik oder Slobodan Šijan, die den inneren Zustand der jugoslawischen Gesellschaft festhalten; Literaten und Literatinnen wie Mirko Kovač oder Dubravka Ugrešić, die den vergrabenen Traumata des Landes nachspüren; Theaterkollektive wie Mimart oder (etwas später) Dah-Teatar, die sich in neuen Formsprachen üben; Bands wie Laibach, Ekaterina Velika, Haustor, Azra, Disciplin A Kitschme, Partibrejkers, Vještice, die, ganz platt, den Soundtrack einer ganzen Generation liefern; aus den Asphaltstraßen der Hauptstädte sprießende Goths, Hippies, Arties, Punks, Kinder der Studentinnen und Studenten von 1968, die ihren Eltern auf den an der Wurzel zu behandelnden Zahn fühlen, wenn diese nach wie vor beteuern, für Brüderlichkeit und Einigkeit einzustehen. Eine Jugend unter Beschuss – von außen – gegen sich selbst.
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Zuerst verschwinden die Goths, die Hippies, die Arties und die Punks. Von der Polizei auf den Straßen Belgrads niedergeknüppelt und bar jeglicher Aussicht auf Veränderung der gegebenen Umstände verlassen in den ersten beiden Kriegsjahren ungefähr 300.000 junge, zudem gebildete Menschen Serbien – eine dunkle Tradition, deren Arm ob der zersetzenden politischen Verhältnisse in den heutigen Teilrepubliken bis in die Gegenwart reicht. Der Rest dieses Unterkapitels soll folgerichtig vom Heroin handeln.
Ein zur ersten Garde des Belgrader Punk gehörender Bekannter namens Šilja (schlaksig, fahl im Gesicht, die Stimme rau), bei dem ein guter Freund und ich öfters Haschisch kauften, erzählte uns einmal folgende Anekdote:
»Ich stehe im Gang des SKC3 und drehe einen Joint … Und ihr müsst wissen, alle waren da: Cane, Milan, Magi, Kusta4 … Ich hatte meine Acid-Herzchen aus Amsterdam extra für den Abend eingepackt, die Brejkers haben gespielt … Ich drehe also einen Joint, als mich jemand von hinten anrempelt und mir auf Englisch sagt, ich soll das Ding schneller drehen! Ich sehe, es ist Johnny Depp, der ja gerade seinen ersten Film mit Kusta gedreht hat, und ich schreie ihn an: Verpiss dich, du Wichser!«
»Du hast echt zu Johnny Depp gesagt, er soll sich verpissen?«, fragte ich ihn – ich erinnere mich – verdutzt und begeistert zugleich. Šilja antwortete: »Es ist mir scheißegal, wer er ist, ich lass mich nicht hetzen, wenn ich eine Tüte drehen soll!«
»Was war danach?«
»Na, was wohl, wir waren high wie Idioten!« Mein Freund und ich lachten kurz auf. Dann aber schlug die Stimmung um: Ein nach Weed duftender, ranzigen Gitarrenriffs und Milan Mladenovićs Stimme tönender Moment der Nostalgie war durch den Raum gegangen, der umso mehr nachhallte, als dass Šiljas Miene die Verzweiflung der Welt zu reiten schien. Er sagte nur noch: »Jungs, ich weiß, auch heute ist alles abgefuckt … Aber ihr habt keine Ahnung, wie das ist, wenn du eines Tages aufwachst, und du hast versucht, von der Nadel wegzukommen, aber nichts hat geklappt, und du öffnest dein scheiß Adressbuch und neben den Namen deiner besten Freunde stehen nur Kreuze. Dieses scheiß Horse hat mir alles genommen!«
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»Ich bin Jugoslawe – also zerfalle ich.« (Graffito in Belgrad)
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Am Kind, das ich einmal gewesen war (soweit diese Erfahrung sich mit meiner Erinnerung deckt), muss der Krieg in Kroatien und Bosnien lautlos vorbeigegangen sein. Eine überaus serbische Realität in den frühen 1990er Jahren (nicht nur der Kinderperspektive wegen). Aus heutiger Sicht mutet es absonderlich an, hinter den Bildern im Fernseher, der ununterbrochen in unserem engen Küchenzubau flackerte, statt dieses großen Spiels, in dem Panzer Richtung unbekannt ihre Munition verstreuten, nicht sofort den Horror erkannt zu haben, der fortan in die Geschichte einer gesamten Region hineinwirken sollte (eben wegen der Kinderperspektive!). Rückwirkend gleicht vieles von dem, was Serbien damals unmittelbar betraf (Sanktionen, Krieg, Proteste usf.), der bizarren Simulation einer ins Leere laufenden Todmaschine, in der jeder Zweite hart auf Propaganda gewesen sein musste, um den Schlamm zu schlucken, der täglich der Bevölkerung in nicht allzu kleinen Dosen verabreicht wurde. Solange niemand wusste, dass Richtung unbekannt die Stadt Sarajevo lag (1.425 Tage belagert von der bosnisch-serbischen Armee), wurde jeder Schuss gefeiert, als sei er liebevoll gegen einen selbst gerichtet worden.
Kurz darauf – der Sommer 1995 muss ein heißer gewesen sein, denn die Erinnerung an ihn ist nachgerade aufmüpfig – fuhren mein Vater und ich an einer Kolonne von Traktoren, Autos, Pferdekarren und Bussen vorbei, hinter der das Kind eines jener Bilder ganz nah wähnte, das vom Fernseher in die Wirklichkeit hinübergeschwappt war. Die Geschwindigkeit unseres klapprigen Yugos entsprach ungefähr der Scham (oder der Wut?), die meinen Vater beim Anblick des sich ins Endlose ziehenden Flüchtlingstrecks aus der Krajina überfallen haben musste. Sein stures ungestümes Schweigen von damals gleicht heute eher einem Knall, der meine Gegenwart herausfordern will. Mein Vater hatte – wie so viele Männer seiner Generation, die einst sich stramme Pioniere schimpften – keine Worte parat gehabt, die das Elend, das sich vor unseren Augen zu einem kilometerlangen Ungetüm aufgebäumt hatte, mit einer Erklärung hätten aufwiegen können – oder wenigstens mit einem Ansatz derselben.
Im Jahre 1999 – genauer ab dem 24. März bis zum 10. Juni – griffen (und ich maße mir an, ebenfalls für meine Freundinnen und Freunde sprechen zu können, mit denen ich damals auf der Stevana-Luburića-Straße spielte), ohne dass ich dessen gewahr worden wäre, Verse Brechts in mein Leben: »Kriege zertrümmern die Welt und im Trümmerfeld geht ein Gespenst um. / Nicht geboren im Krieg, auch im Frieden gesichtet, seit lange. / Schrecklich den Herrschenden, aber den Kindern der Vorstädte freundlich.« Wir spürten den vom Druck der Explosion geborstenen Fetzen Metalls einer BGM-109 Tomahawk nach, die einem Elfjährigen – hielt er die begehrten Stücke denn in der Hand – den Krieg allein anhand ihres unwirklichen Gewichts zu deuten vermochten (wie gesagt, die Erklärungen für dieses nun ganze acht Jahre anhaltende Unheil standen noch aus).
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Im Nachhinein und nicht einer gewissen fatalen Romantik entbehrend könnten die vorangegangenen Sätze durchaus politische Relevanz bergen, wäre da nicht die Janusköpfigkeit dieser am Leibe erfahrenen Wirklichkeit (wie das Beben nach einer Detonation beschreiben?), dieses schrecklich Persönliche, das mit der eigentlichen Geschichte nur insofern zu tun hat, als dass ich mit allen mir zur Verfügung stehenden (sprachlichen) Mitteln versuche, dieselbe Geschichte (im Sinne einer Historie) zu ersticken! Den Leserinnen und Lesern wird die Üppigkeit dieser Sätze augenfällig geworden sein. Die Wahrheit jedes einzelnen hier beschriebenen Bildes liegt irgendwo zwischen dem Nachdenken über und der Flucht in die Hypotaxe vor … (über und vor was eigentlich? Krieg, Schuldfrage, Verbrechen, Opfer, Täter, Verantwortung, Komplex?).
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Immerhin waren es zwei Ereignisse gewesen, die mir – zwar spät, aber umso ungeheuerlicher – die Tragweite der Jugoslawienkriege vor Augen führten, so dass ich nicht mehr umhinkam, zu denken, ich sei, allein meiner schrecklichen Ignoranz wegen, kein Unbeteiligter gewesen, wider Willen, zugegeben, aber dennoch gefestigt in der Meinung, alles, was diesen Krieg betraf, im Vorhinein einem Serbentum (oder Serbismus?!) blind und fraglos unterordnen zu müssen, wo ich doch nicht einmal wusste, dass Vukovar (das erste Ereignis), als ich die Stadt das erste Mal besuchen sollte, eine Ruine war, in die Serben sie im Namen einer zutiefst menschenverneinenden, faschistoiden Idee verwandelt hatten. Meinen Gang durch das zerstörte (zertrümmerte, zermalmte, zer-, zer-, zer-) Vukovar 2007 begleitete schrittgenau ebenjene Unwissenheit, deren Pendant ich im Schweigen meines Vaters zwölf Jahre zuvor wiederzuerkennen glaubte. Alles, was ich bis dahin über den Krieg gewusst hatte, versteifte sich auf das Frühjahr und den Sommer 1999, deren Nachbeben mir erst 2009, am Jahrestag des Bombardements (das zweite Ereignis), endgültig bedeuteten, in einer Gesellschaft des Schweigens aufgewachsen zu sein, einer Gesellschaft, die ihre eigenen Kinder bis heute als Geiseln einer abscheulichen Geschichte festhält, die sie unweigerlich einzuholen droht.
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»Die Vergangenheit holt uns ein!« (Graffito in Belgrad)
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Die Wahrheit weist über die Wirklichkeit hinaus, indem sie den Körper (und ergo das Bewusstsein) um die Komponente des Wissens um erweitert, welches wiederum die abgesteckten Grenzen des Ertragbaren bis zu jenem Punkt auslotet, an dem die Vermutung in Bildung umschlägt. Die Wirklichkeit, sie steckt den Radius meiner Sinne ab, suggeriert mir, was erinnert werden soll, während ich mit der Wahrheit (und was ist mit der Wahrhaftigkeit?) des Erinnerten hadere (vielleicht liegt gerade hierin die Pathologie meines hausgemachten Traumas begründet?!).
Umso näher man der Wahrheit über diesen Krieg kommt (justiziell, geschichtlich, materiell, künstlerisch usf.), bietet sich der allgemeinen Betrachtung (und des mit ihr einhergehenden Urteils) die Nüchternheit einer Aufzählung von Schlagwörtern an, die als Abspiegel menschlichen Tuns in die Geschichte der Niedertracht ihre Einkehr finden werden (sofern sie das nicht bereits getan haben): Chauvinismus, Xenophobie, Nationalismus, Hetze, Ausgrenzung, Vertreibung, Plünderung, Brandschatzung, Internierung, Vergewaltigung, ethnische Säuberung, Totschlag, Mord, Genozid. Jedes dieser Wörter findet im Jugoslawienkrieg sein haptisches Gegenüber, das sich im Gegenzug auf ein einsames Schlagwort nicht reduzieren lassen will, solange in Srebrenica noch Knochen gezählt werden.
Die Namen der Täter sind hinlänglich bekannt. In den heutigen Teilrepubliken genießen sie den Status von Helden, ohne dass die breite Öffentlichkeit oder die staatlichen Institutionen sich an solch einem Zynismus störten (mehr noch, sie fördern und unterstützen ihn). Es ist wieder einmal der Ausnahmezustand, in dem die nachfolgenden Generationen gemeinsam mit ihren Eltern zu Stimmvieh herangezüchtet werden. Die Kehrseite einer solchen Politik zeigt sich in der erneuten Abwanderung zahlreicher gebildeter junger Leute, die das Schweigen und den Status quo einer ihrer Kultur beraubten Gesellschaft nicht mehr dulden wollen. Ihre Flucht jedoch – davon bin ich fest überzeugt – ist eine Flucht nach vorne: Unsere Aufarbeitung beginnt jetzt, dreißig Jahre später (im Übrigen ähnlich wie in Deutschland und in Österreich, welche für ihre Aufarbeitung erst eines Auschwitzprozesses beziehungsweise einer Waldheim-Affäre bedurften, mit viel Hybris aber heutzutage ihre Weisheiten in die ganze Welt exportieren).
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Das Schweigen über (oder das Schweigen vor?) kann nur ein Messer sein, das denjenigen zu erdolchen trachtet, der dem Schweigen trotzt. Die Ideologen von gestern (die dieselben Ideologen von heute sind) haben sich die Masken der Menschlichkeit aufgesetzt, um der Europäischen Union Gelder abzuzwacken – der Gestank jedoch verrät den Kadaver, der den eigenen Bürgerinnen und Bürgern weismachen will, auf ihm könne eine goldene Zukunft gedeihen wie eine Blüte auf dem Kuhfladen. Doch die Geschichte – sie holt tatsächlich auf.
Imre Kertész verwies einmal auf die abgründige Dialektik der Shoah, in der das Massenverbrechen jenseits nationaler Gedächtnistheater sein unverhofftes Gegenwort im Wissen fand, das aus Ersterem in einer derartigen Fülle hervorging, dass es Borges’scher Bibliotheken bedürfte, um dieses Wissen zu bündeln (bedenkt man nur, dass laut Raul Hilberg der Holocaust zu etwa zwanzig Prozent erforscht ist – Stand 2006 – greift die These vom Weg als Ziel umso mehr). Doch wie dieser Fülle an Wissen über die Jugoslawienkriege begegnen – geschweige denn ihr gerecht werden?
Es gibt keine einfachen Fragen – und die Antworten, die ich mir in meinem Unmut zurechtgezimmert habe, reichen bei weitem nicht aus, die Melancholie zu konturieren, die mich heimsucht, wenn ich an das Land und die mit ihm verbundenen Verbrechen denke, denen ich per Zufall einer Geburt anheimfiel.
Doch in den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens (aber auch in der breitgestreuten Diaspora) geht mittlerweile ein Gespenst um: Diejenigen, die nie gestritten und schon gar nicht Krieg geführt haben, reichen heute einander vorsichtig die Hände. Das historische Wissen um die im Krieg begangenen Gräueltaten der Väter bahnt sich seinen Weg durch den Morast an Vorurteilen. Die Widersprüche der vergangenen Jahrzehnte treten deutlicher zutage, so dass ein wie auch immer geartetes Zueinander nicht einem Phantom gleichkommt, sondern einer gelebten Wirklichkeit. Zu dem Warum hat sich mittlerweile ein Wie dazugesellt, dessen sich wieder einmal jene annehmen, denen vonseiten der Machthaber in den Teilstaaten oft und gerne unterstellt wird, sie seien Autochauvinisten, Nestbeschmutzer, Vaterlandsverräter: Wissenschafterinnen, Literaten, Theaterschaffende, Filmregisseure, Philosophinnen, Künstler, Musikerinnen, die allesamt, ganz platt, den Soundtrack einer neuen Generation liefern. Jasmila Žbanić, Srećko Horvat, Ognjen Glavonić, Lana Bastašić, Adnan Hamidović Frenkie, Selma Spahić, Mila Panć … die Goths, die Hippies, Arties und die Punks – sie waren nicht totzukriegen!
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Was übrig bleibt, ist der generationelle Trotz, der (als Überbleibsel aus dem Partisanenkampf unserer Großeltern vielleicht?) jene Seiten der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien wieder aufleuchten lässt, von denen die ganze (westliche) Welt überzeugt sein will, sie seien die bloße Kehrseite eines viel größeren Übels gewesen, das die Freiheit des Individuums opferte für eine Idee, die auf dem Papier zwar gut aussieht, in der Praxis aber zum Scheitern verurteilt war (»Weshalb hattet ihr schließlich Krieg in Jugoslawien? Wegen der Kommunisten natürlich!«).
Diese Arroganz verkennt folgende Tatsachen: Jugoslawien war ein Land im Herzen Europas, das nicht nur trotz, sondern im gleichen Maße auch wegen seines Systems und der Idee dahinter 6 Teilrepubliken mit insgesamt 19 verschiedenen Volksgruppen und Minderheiten 45 Jahre lang zusammenhielt. Es waren Partisaninnen und Partisanen gewesen (kroatische, bosnische, serbische usf.), die dieses Land gemeinsam mit der Roten Armee von den Nationalsozialisten, Četniks und Ustascha befreit hatten. Jugoslawien war ein Land mit einer eigenen Kultur, von deren Reichtum heute noch Menschen weltweit zehren (Marina Abramović, Danilo Kiš, Ivo Andrić usf.). Denkmalpflege und Erinnerungskultur waren tief verwurzelt im Selbstverständnis dieses Staates. Es waren immer auch die Menschen gewesen, die diesem System kritische Bücher, Filme oder Lieder abgerungen haben. 1968, als die Studentinnen und Studenten im Westen Europas sich gerade anschickten, den Kapitalismus unter neoliberalen Vorzeichen zu optimieren, forderten ihre jugoslawischen Kolleginnen und Kollegen von Tito: mehr Kommunismus! Ein Land, das sich mit der Gründung der Blockfreien Staaten solidarisch zeigte gegenüber jenen, die in Zeiten des Kalten Krieges Gefahr liefen, zwischen zwei Systemen zerreiben zu werden.
Sicherlich: Jugoslawien war ein Land mit einer Ideologie, zwei Schriften, drei Religionen, vier Verfassungsänderungen, fünf (später sechs) konstitutiven Völkern, sieben Nachbarstaaten, acht Präsidiumsmitgliedern, neun Parlamenten und zehn Kommunistischen Parteien – ein komplexes System für ein komplexes Land, in dem, neben aller Komplexität, Menschen gelebt haben. Zersetzt wurde Jugoslawien weniger vom eigenen System (obgleich ich nicht verneinen möchte, dass die maroden staatlichen Institutionen den Zerfall begünstigten) denn von – wie Hans Morgenthau zusammenfassen würde – kriegsfördernden Faktoren wie einer übersteigerten Definition und Vertretung nationaler Interessen, einem exzessiven Nationalismus sowie einer übermäßigen Ideologisierung nationaler Politik.
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Zu meinen frühesten Erinnerungen gehört der erste Eindruck einer Verstimmung. Ich muss vier Jahre alt gewesen sein. Wir wohnten in einer der vielzähligen Legebatterien am Rande von Belgrad. Ich spielte mit einer etwa gleichaltrigen Nachbarin auf dem Trottoir vor unserem Hauseingang. Wir waren gerade dabei, eine Spinne (oder war es ein Weberknecht?) mit einem Glas zu fangen, da schob sich dieses seltsame Grau – der Dämmerung nicht unähnlich – vor meine Augen und trübte mit einem Schlag mein Sichtfeld. Meine Freundin schien dieser Umstand nicht zu tangieren, sie war ganz auf die Spinne fokussiert, die, mittlerweile unter dem Marmeladenglas, auf eine Gnade hoffte, die Kinder in diesem Alter nicht kennen.
Jetzt, da ich davon schreibe, sehe ich die in ihrem Glaskäfig ruhende Spinne und die Faszination des Kindes, das den Fangenden spielte, deutlicher, als dass ich dieser Erinnerung Glauben schenkte. Ich weiß nicht, ob mir mein Hirn einen Streich spielt und das Gewesene sich nur als Wahrheit ausgibt. Ich persönlich vertraue auf diese Erinnerung nicht. Das einzig Wahre an ihr ist diese Dämmerung, dieses Grau, das an diesem durch und durch sonnigen Tag im Jahre 1992 keiner Wolke geschuldet war – zu dem Zeitpunkt lag Vukovar bereits in Schutt und Asche.
- Zur weiterführenden Lektüre empfiehlt sich hierzu: Milovan Đilas, Die neue Klasse. Eine Analyse des kommunistischen Systems (Kindler, 1961; vergriffen, antiquarisch erhältlich).
- Für weitere Informationen über die Studentenproteste 1996/97 in Serbien empfiehlt sich der unter diesen Stichwörtern zusammengetragene Wikipedia-Eintrag in englischer Sprache sowie die ursprüngliche Website der Organisatorinnen von 1997, auf der sich nebst Texten auch Fotografien und die damals benutzten, sehr originellen Bannersprüche finden.
- Das SKC (Studenten-Kulturzentrum) in der Kralja-Milana-Straße war damals ein wichtiger Treffpunkt der alternativen Kunstszene in Belgrad. Marina Abramović etwa beging hier ihre ersten Performances.
- Zoran Kostić, Cane, Frontmann der serbischen Band Partibrejkers; Milan Mladenović (1958–1994), Frontmann der serbischen Band Ekaterina Velika, an den Folgen eines Krebsleidens gestorben; Margita Stefanović, Magi, (1959–2002), Keyboarderin von Ekaterina Velika, gestorben an den Folgen einer Aids-Erkrankung; Emir Kusturica, Kusta, bosnisch-serbischer Regisseur, feierte damals im SKC die Premiere seines ersten Hollywoodfilms Arizona Dream.
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