Ein Hafen für die Linke

von Lisa Kreutzer

Fotos: Christopher Glanzl

Seit 25 Jahren trotzt der Wiener Mandelbaum Verlag erfolgreich allen Krisen. Zum Jubiläum wird das Ein-Personen-Unternehmen zur Genossenschaft. Ein Porträt.


1925 wörter
~8 minuten

Dort, wo alles begann, sitzen Elke Smodics und Martin Birkner an einem ovalen Tisch aus weißem Holz. Zwischen Büchern, Pinnwänden und Katalogen, in einem Erdgeschossbüro ohne Fenster und mit sehr hohen Decken. Von den Lampen baumeln alte Telefonhörer als Dekoration, an den Wänden kleben über die Jahre angesammelte Postkarten. Ein Besuch beim Mandelbaum Verlag, im ersten Wiener Bezirk, zwischen Coffeeshop und Friseursalon, fühlt sich heimelig an. Und wie eine kurze Reise durch 25 Jahre Geschichte des linken Wien. Smodics ist seit rund zwei Jahren bei Mandelbaum. Birkner feiert in diesem Jahr sein zehnjähriges Jubiläum im Verlag als Programmleiter der Reihe »kritik & utopie«. Er bringt Espresso. Zeit, über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einer der wichtigsten Plattformen linker und jüdischer Publikationen in Österreich zu sprechen.

Der Verlag hat eine große Transformation durchlaufen: vom Ein-Personen-Unternehmen hin zu einer Genossenschaft. Seit dem 1. April 2021 werden Entscheidungen im Wiener Mandelbaum Verlag ganz offiziell im Kollektiv getroffen, der Verlag befindet sich im Eigentum der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Umwandlung habe drei Jahre gedauert, war mit Hürden und Aushandlungsprozessen verbunden, sagen Birkner und Smodics. Dass sie dennoch erfolgreich war, liegt auch an der Geschichte des Verlags.

Gegründet wurde der Mandelbaum Verlag im Jahr 1996 von Michael Baiculescu – und zwar im Alleingang. Baiculescu wurde in Rumänien geboren, mit sechs Jahren emigrierte er nach Deutschland, wo er später Volkswirtschaftslehre und Politik studierte. »Dann wurde es mir zu eng und klein, ich wollte eine andere Welt sehen.« Diese Welt ist seit dem Jahr 1983 Wien. Der Autodidakt arbeitete hier die ersten Jahre als Grafiker. Als die Kundinnen weniger und die finanziellen Nöte größer wurden, machte er sich selbständig und gründete den Mandelbaum Verlag. Seinen Arbeitsplatz hatte er schon damals dort, wo der Verlag noch heute angesiedelt ist: in der ehemaligen Brücke-Druckerei in der Wipplingerstraße. Gleich neben dem Tisch, an dem Smodics und Birkner über die Geschichte des Verlags sprechen, finden sich Relikte aus dieser Zeit: alte Ordner und Pläne, Starkstromkabel und ein Kran aus Eisen, mit dem Papier und Kisten gehoben wurden.

Die Brücke-Druckerei unterstützte Baiculescu bei der Gründung, indem sie ihn ein Jahr kostenlos drucken ließ. Die Anschubfinanzierung war geschafft. Zugute kam dem Verlag damals auch, sagt Baiculescu, dass sich das österreichische Verlagswesen strukturell reformierte. Im Jahr 1996 wurde erstmals die Verlagsförderung ausgezahlt. »Es war ein komplett neues Instrument der Förderung. Für uns macht das auch heute noch ein Sechstel des Gesamtbudgets aus.« Einige Jahre führte er den Verlag allein, 1999, drei Jahre nach der Gründung, konnte er den ersten Mitarbeiter einstellen.

Die Gründung fiel in eine günstige Zeit, doch dass sich der Mandelbaum Verlag ein Vierteljahrhundert halten konnte, während viele andere kleine Verlage aufgeben mussten oder wirtschaftliche Probleme hatten, lag vor allem am unternehmerischen Können seines Gründers. Von Anfang an übernahm Baiculescu viele Aufgaben in der Produktion selbst. Satz, Layout, Typografie, Druck und Bindung. »Ich bin als Hersteller an die Sache rangegangen, mich konnte man nicht leicht über den Tisch ziehen. Und ich war pragmatisch genug, die Visionen klein zu halten.« Er habe damals nicht die österreichische Verlagsszene umkrempeln wollen, sagt er, vielmehr einen Hafen schaffen, für wichtige Werke, die sonst keine Plattform gefunden hätten. In der Hoffnung, der Linken in all ihren Zerwürfnissen und Widersprüchen einen Ort zu bieten, an dem sie sich vereint, an dem man ins Gespräch kommen kann. 

Auch das Programm des Verlags basierte anfangs auf einer pragmatischen Entscheidung: Sach- und Kochbücher. Keine Lyrik, keine Romane. Denn diese, so Baiculescu, konnte er mit der damaligen Reichweite nicht bewerben. »Dafür braucht man Verbindungen nach Hamburg, Zürich, Berlin. Die hatte ich damals nicht, da fehlte das Know-how.« So begann der Verlag mit etwas Naheliegendem, auch im geografischen Sinne: mit Sachbüchern über die Geschichte und Gegenwart von Wien. »Erst zehn Jahre nach der Gründung habe ich mich getraut, Deutschland-spezifische Bücher zu veröffentlichen.« Anerkennung in den Feuilletons gewann der Mandelbaum Verlag dann spätestens im Jahr 2002, als Das große Wörterbuch der Kochkunst von Alexandre Dumas erschien. Eher zufällig arbeitete Baiculescu an der Veröffentlichung kurz vor dem 200. Geburtstag des Autors. »Darf man als Verleger kaum sagen, aber wir hätten es fast verschwitzt.« Mittlerweile erscheint das Buch in der zehnten Auflage. 

Der Mandelbaum Verlag setzt auch sonst auf die buchstäblich geschmackvollen Seiten des Lebens. Die »kleinen Gourmandisen« etwa sind liebevoll gestaltete, leinengebundene Bücher über Kulturgeschichte, Anbaumethoden, Sorten und Rezepte von Gemüse oder Obst, wie Pastinake, Zucchini oder Johannisbeere. Eine Reihe, die Baiculescu erfunden hat. »Mich hat immer geärgert, dass viele Kochbücher zwar schön gestaltet, aber inhaltlich nicht interessant und kulturgeschichtlich nachlässig sind.« In der Reihe drücken Autorinnen ihre Vorliebe zu einem bestimmten Obst oder Gemüse aus und liefern dazugehörige Rezepte. In einer »kleinen Gourmandise« über die Birne schreibt Sonja Schnögl beispielsweise: »Nachdem ich mich jetzt viele Wochen, eigentlich monatelang mit der Birne beschäftigt habe, bin ich geneigt zu sagen: Die Welt ist eine Birne, man hat das bloß noch nicht erkannt.« Aufgrund solcher Leidenschaft für essbare Pflanzen entwickelte sich die Reihe über die Jahre zu einer der erfolgreichsten des Verlags. Für Baiculescu nicht verwunderlich. »Ich konnte nicht glauben, dass noch niemand anderes diese Idee hatte. Das macht mich stolz.« 

Im Büro des Verlags stapeln sich die Veröffentlichungen der letzten 25 Jahre. Am Eingang liegen aktuelle Bücher: Feministische Geschichte, kulturgeschichtliche Rezeptsammlungen, linke Theorie.

Um die Jahrtausendwende war das Geld knapp, Baiculescu hatte sich mit der Produktion übernommen, der finanzielle Rücklauf aus Verkäufen kam zu spät. »Ich war zu kapitalschwach, um diese Zeit zu überbrücken.« Um einen Kredit zu bekommen, musste er sich stille Gesellschafterinnen suchen. Denn natürlich sei nicht jede Reihe auf Anhieb ein Erfolg gewesen. Beispielsweise die Reihe »Stadtreisen zum jüdischen Europa«, die Baiculescu am Herzen liegt. Sie erzählt die Geschichte von Orten und Gemeinden, Schriftsteller werden zu Reiseführern. Doch derlei Bücher werden oft vor Ort gekauft, sagt Baiculescu, und im Ausland hat der Verlag kaum Vertrieb. Einen Kiosk in Paris kann er nicht beliefern. »Wir haben da ein strukturelles Problem – und nicht die Mittel, das Projekt trotzdem umzusetzen.« 

Auch im Jahr 2012, Birkner war gerade ein Jahr im Team, war das Geld knapp. Das führte zum größten und bislang einzigen richtigen Skandal des Verlags. Er veröffentlichte ein Buch von Viktor Janukowitsch, dem ehemaligen Präsidenten der Ukraine – eine sehr lukrative Auftragsarbeit. »Es war surreal«, erinnert sich Martin Birkner heute. »Die kamen aus der Ukraine im Privatjet eingeflogen. Im Büro des Verlags war es ihnen zu stickig. Also gingen sie auf das Dach des Wiener Luxushotels Imperial, um zu verhandeln.« Baiculescu wurde in den Medien mit Geldwäsche in Verbindung gebracht. Birkner sagt, kurzfristig habe es dem Verlag geschadet. »In literarischen Kreisen wurde ich schon erst mal schief angeschaut«, erzählt Baiculescu. Dennoch stehe er zu dieser Veröffentlichung. »Alles ist Teil der Geschichte des Verlags.« 

Der Mandelbaum Verlag hat sich im deutschsprachigen Raum etabliert. Schwierigkeiten könnten dem Verlag in Zukunft eher globale Probleme bereiten: Dem Verlagswesen geht das Papier aus. Holzknappheit, Lieferschwierigkeiten und die Konkurrenz aus dem Markt der Verpackungen, der durch die vielen Bestellungen in der Pandemie noch gewachsen ist, machen es den Verlagen schwer, genügend Papier zu erhalten. 

Baiculescu ist 63 Jahre alt, in zwei Jahren kann er in Pension gehen. Nach 25 Jahren im Alleingang als Leiter und rund 800 veröffentlichten Titeln stellt sich die Frage: Wie soll es weitergehen? »Für mich war der Verlag auch immer so etwas wie eine Altersversicherung.« Der Verlag hat eine lange Tradition linken Denkens, da lag die Transformation in eine Genossenschaft nahe. Als Elke Smodics vor zwei Jahren das Team erweiterte, übernahm sie die Koordination der Umgestaltung des Unternehmens in eine Genossenschaft. »Mir ist wichtig, dass es eine kollektive Praxis ist, die Strahlkraft hat«, sagt sie. »Ich greife gern in gesellschaftliche Verhältnisse ein, und mit der Genossenschaft tun wir das.« Heute gehört der Verlag drei Beschäftigten: Elke Smodics, Martin Birkner und Kathrin Wohlmuth-Konrad. Als Mitglieder der Genossenschaft sind sie im Kollektiv für das Verlagsgeschäft verantwortlich. Die neue Art zu arbeiten war in der ersten Zeit eine Herausforderung, sagen Birkner und Smodics. Für Baiculescu ist die Transformation gelungen. »Ich freue mich darauf, nicht mehr so verstrickt ins Alltagsgeschäft zu sein.« Ganz kann er es aber nicht lassen. Er bleibt dem Verlag erhalten, arbeitet und berät weiter, von der Genossenschaft erhält er eine Leibrente. 

Im September 2021 stapeln sich im Büro des Verlags die Veröffentlichungen der letzten 25 Jahre an den Wänden und in den Regalen. Am Eingang liegen aktuelle Bücher. Feministische Geschichte, kulturgeschichtliche Rezeptsammlungen, linke Theorie. Jeden Tag schicken Autorinnen und Wissenschafter Manuskripte. »Wir können fünfzig Projekte im Jahr realisieren, da sind wir dann aber gut ausgelastet«, sagt Birkner. Und so produziert der Verlag ohne Unterlass. Elke Smodics, auf feministische Literatur spezialisiert, freut sich auf den Sammelband Kämpferinnen. Auf ihn ist sie besonders stolz. 13 Autorinnen porträtieren darin Feministinnen, die heute über 75 Jahre alt sind und den Kampf um Gleichheit geprägt haben. Birkner kann die Veröffentlichung des Romans Gelobtes Land von Jonathan Garfinkel über eine Reise nach Jerusalem kaum erwarten.

»Meines Erachtens«, sagt Birkner, »stehen große gesellschaftliche Katastrophen kurz bevor. Ich hoffe, dass man ein bisschen dazu beitragen kann, dass es weniger schlimm wird.«

Seit der Gründung, sagt Baiculescu, habe er sich vor Angeboten von Autorinnen nie retten können. »Das liegt auch an der grauen linken Verlagslandschaft Österreichs.« Im deutschsprachigen Verlagswesen gäbe es heute wie damals einen Überhang an bundesdeutschen Verlagen. Diese seien kapitalkräftiger und könnten größere Vorschüsse zahlen. »Wer bekannt ist, geht auch heute noch zu Suhrkamp. Für gute, aber noch unbekannte Autorinnen wollen wir eine Plattform bieten.« Dass der Mandelbaum Verlag darin erfolgreich war und ist, bestätigt auch die Konkurrenz. Für Stefan Kraft, Verleger beim 1982 gegründeten, ebenfalls in Wien ansässigen Promedia Verlags, ist der Mandelbaum Verlag wichtig für linke Theorie, die andernorts wenig Chancen auf Veröffentlichung hätte. »Aus einer linken Perspektive ist der Mandelbaum Verlag ein zentraler Referenzpunkt. Insbesondere die Textreihe ›kritik & utopie‹ ist für die innerlinke Debatte ganz wesentlich.« Die Transformation zur Genossenschaft ist für Kraft ein interessantes Experiment. Dem Mandelbaum Verlag sei es gelungen, eine Beteiligung von vielen Leuten zu erreichen und sich nun auf einer breiteren Basis neu zu organisieren.

Trotz der viel beschworenen Krise des Buchhandels und des Verlagswesens ist die finanzielle Situation des Mandelbaum Verlags im Laufe der Zeit stabiler geworden. Das liegt daran, dass der allgemeine Umsatzrückgang im Buchhandel nicht gleichmäßig passierte, sondern sich auf bestimmte Auflagenarten konzentrierte. »Die Zahl der Veröffentlichungen bis tausend Stück ist größer geworden«, sagt Michael Baiculescu. Das läge vor allem an neuen technischen Möglichkeiten wie dem Digitaldruck. »Da hatten wir als kleiner Verlag ganz gute Chancen.« 

Auch im 25. Jahr seines Bestehens will der Verlag nicht auf Unterhaltungsliteratur oder Kassenschlager setzen. Neo-Genossin Smodics will »Bücher veröffentlichen, die uns Spaß bringen, die das Verdeckte sichtbar machen, die etwas verändern«. Und Martin Birkner sekundiert: »In einer Zeit, in der meines Erachtens große gesellschaftliche Katastrophen kurz bevorstehen, hoffe ich, dass man ein bisschen dazu beitragen kann, dass es weniger schlimm wird.«

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