Für die linke Spur zu langsam

von Karsten Krampitz

Illustration: Lea Berndorfer

Lange Jahre gab Die Linke den Menschen etwas von der Würde zurück, die sie in den Amtszimmern des Jobcenters verloren hatten. Das war einmal.


3587 wörter
~15 minuten

»Aber wir haben doch einen richtig guten Wahlkampf geführt, mit den Menschen gesprochen. Wie kann das sein?« Am Abend des 26. September im Sportlerheim in Zellerau am Stadtrand von Würzburg herrscht Ratlosigkeit. Gut 40 Leute haben sich eingefunden. Genossinnen und Genossen vom Linken-Kreisverband wie auch einige Berliner Mitarbeiter der hiesigen Bundestagsabgeordneten Simone Barrientos, zu denen ich noch bis vor einem Jahr zählte. Bei Bier und gutem Essen wollten wir den Wiedereinzug in den Bundestag feiern. Die Chancen dafür standen auch nicht schlecht. Der Online-Mandatsrechner hatte in den Wochen zuvor für die bayerische Linke konstant sechs statt der bisherigen sieben Mandate ausgewiesen. »Unsere Abgeordnete« stand auf Platz fünf der Landesliste. Bei wenigstens sechs Prozent im Bund und vier Prozent in Bayern wäre das Ziel erreicht gewesen. Dann aber bringt das Fernsehen die erste Prognose, fünf Prozent, und das Entsetzen ist groß. »Unmöglich«, heißt es, »ein Rechenfehler«. Wir hätten die richtigen Themen und die richtigen Leute. Und dass Die Linke in den letzten Wochen zwischen SPD und Grünen aufgerieben worden sei. 

Dabei hatte im Vorfeld der Wahlen, ungeachtet der Umfragen, manches für einen Erfolg gesprochen oder wenigstens für ein passables Ergebnis. War Olaf Scholz nicht ein Gottesgeschenk? Die Sozialdemokraten hatten einen Kanzlerkandidaten aufgestellt, der noch unter Gerhard Schröder SPD-Generalsekretär war, der also an exponierter Stelle am Armutsprogramm Hartz IV mitgewirkt hatte. Nicht zu vergessen seine Rolle als Hamburger Bürgermeister bei den G20-Protesten im Juli 2017. Olaf Scholz hatte nicht nur vermeintlich Linksextreme von der Polizei niederknüppeln lassen, sogar Anwohnerinnen und Fußgänger wurden misshandelt, was in den Medien seinerzeit gut dokumentiert wurde. Auch als Bundesfinanzminister unter Angela Merkel trug Scholz keine saubere Weste. Die Stichworte sind: Wirecard und Cum-Ex. – Und was die Grünen betraf: Annalena Baerbock hatte gleich zu Beginn alles versemmelt mit ihrer aufgepimpten Biografie und einem ebenso abgeschriebenen wie überflüssigen Buch. Hinzu kamen die grünen Forderungen nach höheren Strom- und Spritpreisen, die nach einem linken Korrektiv riefen. Und überhaupt: War Die Linke nicht immer die einzige Friedenspartei im Bundestag gewesen? All die Jahre hatte ihre Fraktion gegen den Bundeswehreinsatz in Afghanistan gestimmt, weil man Demokratie nicht mit Bomben und nicht mit Armeen erzwingen kann. Und sie hatte recht behalten! Und tatsächlich deutete eine Zeit lang einiges darauf hin, dass Die Linke womöglich mit SPD und Grünen in Regierungsverantwortung käme. Doch dann kam der Absturz. 

Gregors bunte Truppe

Erinnern wir uns: In Ostdeutschland waren die Genossen lange Zeit auf dem Weg, so etwas wie die kulturelle Hegemonie zu erringen. In den Neunzigerjahren musste der in Talkshows omnipräsente Gregor Gysi nur mit den Fingern schnippen und das Who’s who der heimischen Kulturszene eilte herbei. Seinem pathetischen Manifest, dem »Aufruf zur Gründung von Komitees für Gerechtigkeit« vom 11. Juli 1992, folgten Größen wie Heiner Müller und Frank Castorf, beides Schwergewichte im Theaterbetrieb. Die westdeutsche Elke Heidenreich unterschrieb, ebenso die Musikerinnen Ina Deter (Neue Männer braucht das Land) und Bettina Wegner (Sind so kleine Hände), die Schauspielerin Käthe Reichel wie auch die Ikone der westdeutschen Friedensbewegung Dorothee Sölle und mit ihr der katholische Friedensapostel Eugen Drewermann, die Schriftsteller Stefan Heym und Klaus Schlesinger, die ARD-Kabarettlegende Dieter Hildebrandt und nicht zu vergessen: Rio Reiser. Der einstige Frontmann der Anarcho-Rockband Ton Steine Scherben war sogar Parteimitglied geworden. Bei späteren Aufrufen gesellte sich kein Geringerer als der angesehene Intellektuelle Walter Jens dazu, der, so wird kolportiert, vor vielen Jahren sogar einmal auf dem Neujahrsempfang der linken Bundestagsfraktion gesprochen haben soll. Will heißen: Auch wenn die Linkspartei respektive die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS), so ihr Name in den Jahren von 1990 bis 2007, im Bundestag lange Zeit als Schmuddelkind behandelt wurde, war es in der Kunstszene und Bohème geradezu schick, sich zu ihr zu bekennen. Im Prenzlauer Berg trafen sich in der Basisgruppe »Torpedokäfer« bekannte Lyriker wie Bert Papenfuß und Stefan Döring. Der Schauspieler Peter Sodann, manchen noch als Tatort-Kommissar Bruno Ehrlicher bekannt, trat vor vielen Jahren für Die Linke als Zählkandidat bei der Bundespräsidentenwahl an. Dass ein Fernsehstar sich bereit erklärte, für die Genossen seine Karriere zu ruinieren – die großen Rollen blieben für Sodann danach aus –, hat es seither nicht wieder gegeben. Und wofür? Als Rio Reiser starb, hatten seine Genossen nicht einmal einen Kranz für ihn übrig.

In den Debatten und Papieren der Linkspartei kann es heute nicht akademisch genug zugehen, die Intellektuellen und Künstler aber sind fort. Die Bewegungslinke wird das nicht gerne lesen: Aber in den zentralen gesellschaftlichen Diskursen, siehe Fridays for Future, spielt die Linkspartei keine Rolle. Und seien wir ehrlich, den SED-Mundgeruch ist Die Linke nie ganz losgeworden. 

Simone Barrientos war nie in der SED, und ihretwegen sind auch keine berühmten Künstler der Partei beigetreten. Dennoch hat sie in der linken Kulturpolitik neue, eigene Akzente gesetzt. Die 2017 in den Bundestag gewählte ehemalige Kulturmaschinen-Verlegerin und gebürtige Ostdeutsche verstand sich vor allem als Stimme für die vielen Hungerkünstler, die in prekären Verhältnissen leben, ihr Atelier nicht bezahlen können oder fürchten, wegen zu geringen Einkommens aus der Künstlersozialkasse ausgeschlossen zu werden. Barrientos’ Credo: »Wer für die Freiheit der Kunst ist, muss auch für die Freiheit der Künstler sorgen, für die Freiheit von Armut.« 

Neu war auch ihr Umgang mit der Geschichte. Dazu zählte ein klares Bekenntnis zur Verantwortung für die SED-Vergangenheit, das jedoch einherging mit einer deutlichen Kritik an der Instrumentalisierung der Stasi-Akten. Wobei für Simone Barrientos, die früher laut Ministerium für Staatssicherheit mal eine »negativ-dekadente Jugendliche« war, der freie Zugang zu den Akten nie zur Disposition stand. Die DDR-Geschichte aber sollte nicht mehr dämonisiert und auch nicht verklärt werden; Aufarbeitung im Sinne von Aufklärung und nicht von Vergeltung. Eine solche Haltung ist keinesfalls selbstverständlich, schon gar nicht in der Partei.

Schwierigkeiten mit der Vergangenheit

Wer sich in der Linken kritisch mit der eigenen Geschichte auseinandersetzt, gilt gemeinhin als Störenfried. Zur Berliner Abgeordnetenhauswahl 2016 war ich, damals noch Mitglied der Partei, in der Wahlprogrammkommission für den Kulturteil verantwortlich. Als »Abschnittsbevollmächtigter« nahm ich mir das Recht heraus, ein paar zusätzliche Sätze ins Wahlprogramm zu schreiben und zur Diskussion zu stellen. Sätze, die bei den vorangegangenen Wahlen gefehlt und ein Bekenntnis zur historischen Verantwortung für das in der DDR begangene Unrecht zum Gegenstand hatten. Ist doch die Linkspartei, mit Nietzsche gesprochen, »das Resultat früherer Geschlechter« und damit ihrer »Verirrungen, Leidenschaften und Irrtümer, ja Verbrechen«. Und auch wenn die Genossen all die Verwerfungen heute ablehnen und sich ihrer Geschichte, in den Worten des Philosophen, »für enthoben erachten«, so bleibt die Tatsache, dass sie aus eben dieser Vergangenheit herstammen. Wer sich seiner Geschichte nicht bewusst ist, ist dazu verdammt, seine Fehler zu wiederholen – was ja tatsächlich passiert: Schon die SED meinte den Leuten sagen zu können, wie sie zu schreiben, zu reden und zu denken hatten. Auf jeden Fall danke ich für die Erfahrung, diesen Fehler werde ich ganz sicher nicht wiederholen. 

Harald Wolf, der ehemalige Wirtschaftssenator und heutige Schatzmeister der Linken, nahm mich vor versammelter Mannschaft auseinander und faltete mich wieder zusammen. Historische Debatten, gerade dieser Art, hätten im Programm nichts zu suchen. Auch später wurde mir immer wieder bedeutet, dass meine (damalige) Partei sämtliche geschichtspolitischen Auseinandersetzungen, insbesondere zur DDR-Geschichte, meiden wird, was mich anfangs sehr irritierte. Hatte ich doch drei Jahre lang von der parteinahen Rosa-Luxemburg-Stiftung ein Promotionsstipendium zur Erforschung eben dieser DDR-Geschichte erhalten. Aber was weiß ich schon? Doch wenige Wochen nach der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus 2016 erlebten meine damaligen Genossen ihr Fiasko. Der bekannte Sozialwissenschafter und Gentrifizierungskritiker Andrej Holm, den die Parteispitze für den Posten des Staatssekretärs in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen nominiert hatte, wurde seiner Stasi-Vergangenheit wegen von den konservativen Medien binnen kurzer Zeit demontiert und zum Rücktritt gezwungen.

Geschichtslosigkeit als Indiz für eine gestörte Identität

Alle anderen demokratischen Parteien hatten in der Vergangenheit ihre dunklen Kapitel. Dennoch schöpfen sie Kraft aus ihrer Geschichte. Nicht so Die Linke. In den neun Jahren meiner Mitgliedschaft war das für mich eine bittere Erfahrung: Gleichwohl sie von ihrer Historie gequält wird, ist die Linkspartei ein geschichtsloses Wesen. 

In welcher geistigen Verfassung sie seit etlichen Jahren steckt, bezeugt der Umstand, dass mit Simone Barrientos nur eine einzige Linken-Abgeordnete am hundertsten Jahrestag der Novemberrevolution eine Erklärung veröffentlichte – immerhin ging es um die größte und noch dazu linke Massenbewegung in der deutschen Geschichte! Die Novemberrevolution hat den Krieg beendet, die Monarchie hinweggefegt und die Demokratie eingeführt. Frauenwahlrecht, die Gewaltenteilung oder auch die Trennung von Staat und Kirche, der Achtstundentag, gewerkschaftliche Mitbestimmung, all das sind Errungenschaften jener Tage. Zum 9. November 2018 aber gab es keine Verlautbarung oder Veranstaltung von Partei und Fraktionsspitze. Erst Wochen später gab der Parteivorstand eine Erklärung zur Novemberrevolution ab, die das Papier von Simone Barrientos als Grundlage hatte. Was im neuen Text jedoch fehlte, war zum Beispiel der SPD-kritische Abschnitt: »Was Ebert, Scheidemann u. a. führende Mehrheitssozialdemokraten im Einzelnen anstrebten, ist, so der Historiker der Arbeiterbewegung Gustav Mayer, oftmals richtig gewesen, ›richtiger sicherlich, als all das, was das demagogische Gesindel der Rechten vorschlug, aber die Kleinheit ihres moralischen und intellektuellen Formats schlug sie mit Unfruchtbarkeit‹. Die SPD-Führer hatten die Revolution weder gemacht noch gewollt. Und dennoch war sie ein Kind der Sozialdemokratie, schreibt Sebastian Haffner, wenn auch ein unerwünschtes. ›Und als sie es tötete, war es Kindstötung.‹ Und wie jede Kindsmörderin versuchte sich auch die SPD damit herauszureden, es habe sich um eine Totgeburt gehandelt …«

Das Wort Geschichte kommt von geschehen. Der hundertste Jahrestag der Novemberrevolution wäre für Die Linke eine Chance gewesen, in der Öffentlichkeit ein wenig vom alten SED-Framing abzustreifen, auch wenn sie in einigen Bundesländern mit der SPD regiert. Eine gemeinsame Koalition hat auch die Sozialdemokraten nie davon abgehalten, in ihrer Erinnerungspolitik Die Linke unter Druck zu setzen, also des Mauerbaus und der staatlichen Teilung zu gedenken und überhaupt der SED-Gründung im April 1946, dem vielerorts unter Zwang vollzogenen Zusammenschluss von KPD und SPD. – Warum also nicht umgekehrt an den SPD-Reichswehrminister Gustav Noske erinnern und an die 5.000 bei der Niederschlagung der Revolution Ermordeten? 

Stattdessen wird in der Historischen Kommission beim Parteivorstand der Linken, der ich angehöre, allen Ernstes noch darüber gestritten, ob man im Kontext des Aufstands vom 17. Juni 1953 von einem »maßvollen« Vorgehen der Roten Armee sprechen kann. – Um Geschichte wurde schon immer gerungen. Und auch zum ersten sich selbst so nennenden Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden gibt es verschiedene Erzählungen. Aber es gibt eben auch Fakten, beispielsweise 34 tote Demonstranten an jenem 17. Juni. Die DDR, so viel sei hier gesagt, ist zu verschiedenen Zeiten verschieden gewesen. Darüber streiten die Historiker, die noch immer keinen praktikablen Herrschaftsbegriff für diesen Staat gefunden haben. Einiges spricht für eine »Fürsorgediktatur«, andere reden von einer »Erziehungsdiktatur«. Wenn dann aber linke Mandatsträger, wie anno 2019 im Berliner Landesparlament, den Bau eines »Mahnmals für die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft« durchwinken – als Regierungsfraktion! –, ja sogar vom Rednerpult aus mit warmen Worten gutheißen und ansonsten nicht mit dem Identitätsthema der Ostdeutschen behelligt werden wollen, dann ist das nur erbärmlich. Kein seriöser Historiker verwendet diesen Terminus im Kontext der DDR-Geschichte, der auf eine Gleichsetzung von SED-Staat und NS-Regime hinausläuft. Wenn links genauso wie rechts ist, warum dann noch Die Linke wählen?

Die einstige Ostpartei PDS beziehungsweise Die Linke fungierte lange Zeit als eine Art Bund der Vertriebenen. Leider nur waren ihre Politiker nicht in der Lage, den sozialen Verwerfungen infolge der deutschen Wiedervereinigung etwas entgegenzusetzen (sieht man vom Versorgungsangebot für ausrangierte SED-Kader ab). Schlimmer noch: Die Partei, die vielerorts mit sich selbst und diversen Stasi-Vorwürfen beschäftigt war, sah sich außerstande, die Entwertung von Millionen DDR-Biografien aufzuhalten. Wenn dieser Staat, wie oben berichtet, eine »kommunistische Gewaltherrschaft« gewesen ist, dann hatte jedes kleine Glück den Beigeschmack von Kollaboration mit den Unterdrückern, mit Stasi und Staatspartei. – Ein Leben, das nicht mehr erzählt wird, macht Menschen krank. Der irrationale Zorn vieler Ostdeutscher, der Fremdenhass, der Rassismus und Antisemitismus haben auch hierin ihre Ursachen, in den schlecht verheilten Brüchen der Nachwendezeit, der Globalisierung und der Digitalisierung. Gerade in den unteren Milieus grassiert eine allgemeine Veränderungserschöpfung. Und Hass betäubt den Schmerz. 

Entfremdung von den Unterschichten

Im Museum für Gestaltung in Zürich ist ein PDS-Plakat aus dem Jahr 1992 ausgestellt, auf dem Gregor Gysi mit verschränkten Armen und ernstem Blick den Betrachter anschaut. Dazu der Spruch: »Kopf hoch, nicht die Hände!« – Nie wieder hat die Partei so sehr den Zeitgeist getroffen, den Nerv so vieler Ostdeutscher. Die damalige »Kümmerer-Partei«, die in der Gesellschaft der Post-DDR wie keine andere vernetzt war, hatte nicht nur ein Programm – sie hatte einen Gebrauchswert. Den Verlierern der Einheit gab sie ein Stück Würde zurück.

Das Gleiche tat auch DIE LINKE (wie sie sich selbst nennt und schreibt, nach ihrem Zusammengehen mit Lafontaines »Wahlalternative für Soziale Gerechtigkeit« im Jahr 2007): Sie gab den Menschen etwas von der Würde zurück, die sie in den Amtszimmern des Jobcenters verloren hatten. Soziale Gerechtigkeit war einmal der Markenkern der Linkspartei. War. Niemand an der Parteispitze wird diese Entwicklung einräumen und damit Sahra Wagenknecht recht geben, die in ihrem Bestseller Die Selbstgerechten von den »Lifestyle-Linken« spricht und davon, dass sich Die Linke zu sehr für Themen der Grünen interessiere, für Klimapolitik, Minderheitenrechte und diskriminierungsfreie Sprache, statt sich um ihre eigentliche Klientel zu kümmern, die Geringverdiener, Hartz-IV-Empfänger und verarmte Rentner. – Für mich war Sozialismus immer zuerst ein kulturelles Lebensgefühl. Und Wagenknechts Wortmeldungen in der Flüchtlingsfrage waren für mich schwer erträglich. Sozialpolitik macht auch die FPÖ. Erst der internationalistische Ansatz, die gelebte Solidarität macht uns zu Linken. Der Streit aber um ihr Buch dokumentiert vor allem die Unfähigkeit der Linken, einschließlich Wagenknechts, zum parteiinternen Diskurs. Ganz unrecht aber hat die einstige Linken-Fraktionschefin mit ihrer Kritik nicht: Im Jahr 2009 habe ich mit Freunden in Berlin nahe dem Bahnhof Lichtenberg eine Notübernachtung für Obdachlose aufgebaut, namentlich das »Nachtasyl Gorki«, und mich dort drei Winter lang ehrenamtlich engagiert. Die Linkspartei stellte damals wie heute in Lichtenberg den Bezirksbürgermeister – doch von der Lichtenberger Linken setzte nie ein Genosse seinen Fuß in unser Nachtcafé, geschweige, dass wir irgendwelche Hilfe bekamen, gleichwohl es von unserer Seite deutliche Hilferufe gab.

Das Thema Obdachlosigkeit wurde für Die Linke erst ab 2016 relevant, mit dem Amtsantritt von Elke Breitenbach, der linken Sozialsenatorin Berlins. Dennoch bleibt es ein Faktum, dass sich das Gros der Hartz-IV-Empfänger, Niedriglöhner und Alleinerziehenden in der Linkspartei nicht mehr wiederfindet. Wie kann es sein, dass ein großer Teil der bundesdeutschen Bevölkerung mit den Zielen der Linken sympathisiert (Mindestlohn von 13 Euro, Einführung einer Vermögenssteuer, mehr Geld für Menschen in Pflegeberufen, keine Rüstungsexporte, kostenfreier öffentlicher Nahverkehr und bundesweiter Mietendeckel), die Partei aber um ein Haar aus dem Bundestag geflogen wäre? 

Am 26. September fanden in Berlin neben der Bundestagswahl noch die Wahlen zum Abgeordnetenhaus und für die Bezirksparlamente statt. Und auch hier erlitt Die Linke Verluste, allerdings im überschaubaren Bereich. Bloß wundert es, dass am selben Tag der Berliner Volksentscheid für die Vergesellschaftung großer Wohnungskonzerne in der Stadt eine breite Mehrheit bekam, konkret: 1,04 Millionen Stimmen, was einem Anteil von 59,1 Prozent entspricht, doch auf dem beiliegenden Stimmzettel zur Abgeordnetenhauswahl nur 14 Prozent (2016: 15,64 Prozent) ihr Kreuz bei der Linkspartei machten, der einzigen Partei, die diesen Volksentscheid umsetzen will. – Die Linke hat an Glaubwürdigkeit verloren. Wenn ich mir auf der Wahlparty der Linken in Würzburg ein Lied hätte wünschen können, dann Tom Liwa: »Für die linke Spur zu langsam / für die rechte Spur zu schnell«. Der Song wäre eine gute Parteihymne.

»Wen will die Linke erreichen und vertreten«, fragte dieser Tage Horst Kahrs, Wahlforscher bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung. »Die Einkommensschwachen und Niedriglöhnerinnen, die bei der Wohlstandsverteilung zu kurz kommen – und auch, ganz im Marx’schen Sinne diejenigen, die an vorderster Front an der Weiterentwicklung der modernen Produktivkräfte, von Wissenschaft und Technologie arbeiten, um ihre Arbeit für das Wohlergehen der gesamten Menschheit nutzbar zu machen?« Die Antworten hier, die Antworten da ergäben kein schlüssiges Narrativ der Partei, wohin sie will, was sie mit der Gesellschaft vorhabe. Kahrs sagt: »Wenn ein solches Narrativ fehlt, bleibt eine Partei in der Durchsetzungsfalle stecken, die sich erschließt, wenn man mal kurz in den Schuhen eines 50-jährigen ehemaligen Opelarbeiters oder einer Krankenpflegerin […] durch die politische Landschaft läuft: 2009 die Linke gewählt, 2013 die Linke gewählt, auch 2017 vielleicht noch mal – und was hat es für die Verbesserung meiner eigenen Lage, um die es der Linken ja geht, gebracht? Es gibt aus dieser Perspektive genügend andere Gründe, die Linke zu verlassen, als deren angeblichen Kosmopolitismus und Schwenk zum linken Lifestyle …«

Die Partei neu erfinden?

Im Vergleich zur Bundestagswahl 2017 hat die Linkspartei zwei Millionen Stimmen verloren, hunderttausend davon in Richtung AfD. Allein die drei Grundmandate in Berlin und Leipzig und die damit verbundene Sonderregelung retteten die Partei vor dem parlamentarischen Aus. Schon am Wahlabend erfolgten die erwartbaren Schuldzuweisungen. Und womöglich hat die öffentliche Demontage Sahra Wagenknechts durch die eigenen Genossen, die während des Wahlkampfs einen Parteiausschluss forderten, nicht unbedingt zur Stimmenvermehrung beigetragen. Egal wie man zu ihr steht, neben Gysi ist sie die einzige Linken-Politikerin, die im Fernsehen präsent ist und noch dazu als Rednerin die Säle füllt. Ebenso wenig hilfreich war das Taz-Interview des linken Oberbürgermeisters von Frankfurt (Oder), René Wilke, der wenige Tage vor der Wahl meinte sagen zu müssen, er könne niemandem raten, eine Koalition mit seiner Partei einzugehen. Vielleicht lag es aber auch am Spitzenkandidaten? Mit Dietmar Bartsch bewarb sich derselbe Genosse an vorderster Stelle um ein Mandat, der bereits 2002 den Karren an die Wand gefahren hatte, als die PDS (bis auf zwei Direktmandate) aus dem Bundestag geflogen war. Und das ist schon bemerkenswert. Bis dato hat niemand in der Partei Verantwortung für die Niederlage übernommen.

Nicht wenige Stimmen fordern neben einer schonungslosen Analyse eine Neuaufstellung der Partei, die zerrissener kaum sein könnte. Die Linke soll sich komplett neu erfinden, was ihr das letzte Mal 1990 gelungen ist. Allerdings gab es damals eine Basis, die gegen das Zentralkomitee Sturm lief. Wer heute der Linkspartei beitritt, wird bald erfahren, dass es in der Partei noch eine andere, die richtige Partei gibt, deren Akteure die Zugbrücke nur selten herunterlassen. Der Apparat, indem es durchaus kluge Leute geben mag, will keine kritischen Mitglieder, sondern Fans, die ihrer Mannschaft auf dem Platz zujubeln, egal wie diese spielt. Die Anhänger des »Vereins« dürfen nicht aufs Spielfeld, da sei Gott vor! Und sie dürfen auch nicht mitentscheiden, wen der Trainer aufstellt und wen nicht. Die Linke ist eine Beitragszahler-Partei. Im Wahlkampf darf die Basis Plakate kleben und Flyer verteilen.

Thies Gleiss, Mitglied im Parteivorstand, und dort Vertreter der Strömung Antikapitalistische Linke, schlug zuletzt vor, dass »die gesamte Riege der wiedergewählten Abgeordneten, die nur zufällig aufgrund der drei Direktmandate zu einer Fraktion geworden sind, erklären sollten, dass sie die Wahl nicht annehmen und Platz für Nach-rücker:innen machen, die erstmals gewählt werden würden. Drei alte Hasen und sonst nur neue Abgeordnete, die sich noch bewusst sind, welch ein Privileg es ist, für die Partei gut bezahlte Parlamentsarbeit machen zu dürfen, die sich dem Primat der Partei gegenüber der Fraktion unterordnen – DAS wäre ein positives Signal des Neubeginns!« – Das wird nicht geschehen. 

Die Bundestagsfraktion der Linken ist diverser geworden (30 Prozent ihrer Abgeordneten haben Migrationshintergrund, über die Hälfte sind Frauen), aber genauso alt geblieben. Das Durchschnittsalter liegt bei 50,4 Jahren. Dagegen sind die Grünen im Parlament mit einem Altersdurchschnitt von 42,6 Jahren deutlich jünger vertreten, ebenso die SPD mit 46,4 Jahren und ihren 49 Jusos. – In der Linken-Fraktion, von der eine Erneuerung ausgehen soll, ist niemand unter dreißig. Vor allem aber ist die Truppe fast um die Hälfte geschrumpft, mit nur noch 39 statt bislang 69 Abgeordneten. Im Gebäudekomplex des Bundestags verliert die Fraktion insgesamt 150 Büroräume, was in etwa 200 Mitarbeitern und Referenten entspricht. Anders als SPD, Grüne, CDU und FDP hat die Linkspartei keine Vorfeldorganisationen, die diese Menschen auffangen könnten. 

Das eigentliche Trauerspiel aber hat noch nicht begonnen: In den nächsten vier Jahren wird jede kleine Minderheit in der Linken-Fraktion dieselbe enorm unter Druck setzen können. Wenn nur drei Abgeordnete austreten, verliert Die Linke ihren Fraktionsstatus und damit etliche Parlamentsrechte; Petra Pau wird ihr Büro als Vize-Bundestagspräsidentin verlieren und die letzten Referenten ihren Job. Und womöglich wird genau das geschehen. Denn wie schon der selige Wiglaf Droste sagte: »Ist der Zirkus noch so klein / Einer muss der Affe sein«.

»IM MUSEUM FÜR GESTALTUNG IN ZÜRICH IST EIN PDS-PLAKAT AUS DEM JAHR 1992 AUSGESTELLT, AUF DEM GREGOR GYSI MIT VERSCHRÄNKTEN ARMEN UND ERNSTEM BLICK DEN BETRACHTER ANSCHAUT. DAZU DER SPRUCH: ›KOPF HOCH, NICHT DIE HÄNDE!‹ – NIE WIEDER HAT DIE PARTEI SO SEHR DEN ZEITGEIST GETROFFEN, DEN NERV SO VIELER OSTDEUTSCHER.«
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